Märchenhaft und der Geschichte enthoben

17.07.2012
Es ist der bereits dritte Roman von Stefan aus dem Siepen: Die Geschichte vom "Seil" ist um eine Parabel gewoben. Eine Dorfgemeinschaft zieht aus, um ein Rätsel zu lösen und erlebt dabei allerhand Prüfungen. Nach Einschätzung der Kritikerin Sigrid Löffler eine fesselnde Lektüre.
Stefan aus dem Siepen, Jahrgang 1964, geboren in Essen, ist Jurist und Diplomat und arbeitet im Planungsstab des Auswärtigen Amtes in Berlin. Außerdem ist Aus dem Siepen auch Schriftsteller. "Das Seil" ist sein dritter Roman. Er kommt mit allen Anzeichen einer Parabel daher - mit der impliziten Aufforderung an den Leser, das Gleichnishafte der Geschichte zu erkennen und zu deuten.

Zeit und Ort des Romangeschehens sind fast märchenhaft zeit- und geschichtsenthoben. Schauplatz ist ein hinterwäldlerisches Dorf, ein archaischer Weiler inmitten unendlicher Wälder, in dem die Häuser noch mit Stroh gedeckt sind und mit Kienspan beleuchtet werden. Eines Tages bemerkt einer der Bauern ein daumendickes Seil. Das eine Tauende liegt in einer Wiese, das andere Ende ist nicht erkennbar: Das Seil führt in den Wald hinein. Neugierig geworden, beschließen die Dörfler, obwohl die Ernte unmittelbar bevorsteht, dem rätselhaften Seil nachzugehen, um sein anderes Ende zu finden und sein Rätsel zu lösen.

Die Männer begeben sich auf eine Abenteuertour, deren Ende nicht abzusehen ist und die sie immer weiter von ihrem gewohnten engen Dorfleben wegführt. Nur zwei von ihnen kehren nach einem Tag um, verirren sich und kommen offenbar ums Leben (der Autor führt diesen Erzählstrang nicht weiter); die restlichen Dörfler folgen dem Seil - immer geradeaus, querwaldein, über Stock und Stein, Berg und Tal, ins Weite und ins Ungewisse. Das Seil als geradliniger Erzählstrang und als gefährliche Verlockung, aber auch als Chance der Hinterwäldler, "ihrer angestammten Kleinwelt zu entrinnen, die tausend Fäden, mit denen sie an Haus und Dorf gefesselt waren, lustig-irrsinnig zu kappen".

Doch weder die Lustigkeit noch der Irrsinn, die der Erzähler hier verspricht, wollen sich so recht einstellen. Das verhindert schon der biedere, gemessene und altfränkische Erzählton des Autors, der die Vermessenheit dieses Unterfangens eher behauptet als sprachlich beglaubigt. Während die im Dorf zurückgebliebenen Frauen, Alten und Kinder vergeblich warten und schließlich, ehe sie verelenden, ihren Weiler verlassen und in Nachbardörfern Zuflucht suchen, folgen die Männer ihrem parabolischen Seil, das sie narrt und letztlich in die Irre führt: "Die Unergründlichkeit zog sie an - das Seil gewann umso mehr Macht über sie, je weiter es über die Grenzen ihres Verstandes hinausragte."

Die abenteuerliche Wanderung kostet zwar einige der Männer das Leben, Unfälle und sogar ein Mord ereignen sich, doch überwiegt die Sturheit des unentwegten Geradeaus dieses Erzählschemas, ehe eine überraschende Wendung der Seilschaft doch noch ein Ende macht. Das große Geheimnis des Seils wird allerdings nicht gelöst, die Verrätselung bleibt ohne Dekodierung, wie das in heutigen Parabeln seit Kafka und Samuel Beckett fast die Regel ist. Insofern ist das Ende der Parabel weder überraschend noch erreicht. Dass die Lektüre dennoch fesselt und letztlich nicht enttäuscht, darf sich der Autor Stefan aus dem Siepen handwerklich gutschreiben.

Besprochen von Sigrid Löffler

Stefan aus dem Siepen: Das Seil
Roman, Deutscher Taschenbuch Verlag dtv, München 2012, 176 Seiten, Euro 13,90
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