"Mach das, Literatur ist in dir drin"

Sascha Verlan im Gespräch mit Joachim Scholl und Martin Risel · 03.07.2012
Advanced Chemistry, Massive Töne und Yassir statt Goethe, Schiller und Eichendorff - der Musikjournalist Sascha Verlan hat deutsche Rap-Texte für den Schulunterricht versammelt. Er wolle Schülern vermitteln: Literatur ist nicht nur zum Konsumieren da, man kann sie auch selbst produzieren, sagt Verlan.
Joachim Scholl: "An das Publikum" von Advanced Chemistry aus Heidelberg. Später hören wir den Text noch ausführlicher. Auf jeden Fall steht er in einem Materialienbuch für den Schulunterricht. Es versammelt Raptexte für die Sekundarstufe, und den Band hat der Musikjournalist Sascha Verlan zusammengestellt. Er ist jetzt aus einem Studio in Köln zugeschaltet. Willkommen im Deutschlandradio Kultur!

Sascha Verlan: Ja, hallo nach Berlin!

Scholl: Herr Verlan, Rap als Texte und Materialien für den Unterricht als handliches Reclam-Heft - diese Idee ist jetzt nicht neu, schon im Jahr 2000 gab es eine erste Publikation. Sind Rap und Hip-Hop also schon, ja, als Schulstoff etabliert?

Verlan: Ob sie etabliert sind, das weiß ich nicht. Was natürlich ganz automatisch der Fall ist, das heißt, es gibt neue Lehrergenerationen, die mit der Musik aufgewachsen sind. Wir müssen einfach sehen, die Anfänge sind in Amerika in den 70er-Jahren, in Deutschland in den 80er-Jahren, da sind also viele Lehrer, die jetzt an den Schulen unterrichten, die das selbst erlebt haben, die dabei waren. Mein Freund und Kollege Hannes Loh, mit dem ich auch Bücher geschrieben habe, der ist inzwischen selber Lehrer, da ist das natürlich Teil des Unterrichts, das kann gar nicht anders sein, weil es Teil des Lebens von vielen Lehrern heute ist.

Scholl: Hat Ihnen denn Ihr Freund schon mal erzählt, wie das ankommt, wenn man dann mit so einem Büchlein ankommt und sagt, ja, heute machen wir mal in Deutsch was anderes - als Wanderers Nachtlied?

Verlan: Ich meine, er hat, er bringt natürlich die Street Credibility mit. Er kann das direkt alles selber machen, es ist ein Text von ihm auch mit drin. Eine Schwierigkeit ist natürlich, je weiter die Lehrer weg sind von dem Thema, stellt sich dann sehr schnell die Situation ein, dass die Schüler definitiv mehr wissen. Und das ist für Lehrer nicht immer einfach.

Martin Risel: Wobei es sich ja hier, wohlgemerkt, ausschließlich um deutsche Raptexte handelt, und zwar vor allem solche aus den 90er-Jahren, als die Szene ja in Deutschland aufgeblüht ist. Wie und warum haben Sie das so ausgewählt?

Verlan: Das ist natürlich - das Konzept von Reclam ist immer, die klassischen Texte, die wichtigen, für die Entwicklung wichtigen Texte zu bringen, und die erste Auflage erschien ja 2000, das war in der Zeit vor Internet, wo man sich die ganzen Texte und Lyrics herunterladen konnte. Da gab es das einfach nicht. Also, ich habe viele von den Texten einfach von der Platte abgehört, Wort für Wort. Es gab einfach keine Texte, und das einfach mal, für die Anfangszeit und für die Entstehung von Rap und Hip-Hop in Deutschland, die wichtigen Texte einfach mal zu versammeln, das war Sinn und Zweck dieser ersten Sammlung.

Martin Risel: Dann hören wir vielleicht erst noch mal so eine Nummer, über die wir sprechen. Zu den wichtigsten deutschen Bands damals gehörten die Massiven Töne, hier sind sie mit einem Song von 1996, den hab ich hier auch im Deutschlandradio Kultur schon öfter gespielt, der heißt "Nichtsnutz".

((Musikeinspielung))

Scholl: "Nichtsnutz", das Stück von Massive Töne, den Rappern aus Stuttgart. Der Text ihrer Songs findet sich auch in dem Buch "Rap Texte", das Sascha Verlan für den Gebrauch an Schulen herausgegeben hat. Er ist bei uns im Studio. Herr Verlan, dieser Rap eben wird von Ihnen kommentiert in dem Buch als erstaunliche Parallele zu Eichendorffs "Taugenichts"-Novelle, also Aussteiger-, Künstlerromantik. Ist das so der Bildungsweg, wie man Rap als Literatur zum Schüler bringt?

Verlan: Die Frage würde ich allgemeiner fassen, und das beschäftigt ja auch viele Deutschlehrer: Wie bringt man überhaupt Literatur an die Schüler? Und mit Eichendorffs "Taugenichts"-Novelle ist das von der Sprache her, von der Art, was erzählt wird, mitunter gar nicht so einfach. Es ist eine Parallele da, es geht auch um die Umdeutung von einem Begriff, also "Taugenichts" ist damals wie heute kein positiver Begriff gewesen, der in so einer Novelle einfach umgedeutet wurde. Ich mache das zu was Positivem, dann kann mich dieser Begriff nicht mehr verletzen.

Das ist bei "Nichtsnutz" genauso, das ist im amerikanischen Kontext natürlich auch mit dem Wort "Nigger" so gelaufen. Das ist ein Schimpfwort, mit dem ihr uns verletzen wollt. Wir deuten das positiv um und dann tut es nicht mehr weh. Was Hip-Hop und Rap eben hat, viel stärker als jede andere Literatur, ist dieser Impuls, der davon ausgeht, das selber zu machen, das zu seinem eigenen zu machen, also wer Rap hört, wer sich für die Kultur begeistert, das sind ganz viele Jugendliche einfach dann ganz schnell einfach auch mit dem Stift zur Hand und schreiben das selber. Und das scheint mir tatsächlich ein Schlüssel zu sein, wie man Literatur an junge Menschen heranbringen kann.

Nicht als Konsumenten, da ist dieses Buch, da ist dieser tolle Goethe oder dieser Eichendorff, und das musst du jetzt lesen und dann bist du ein gebildeter oder ein besserer Mensch. Sondern so dieser Impetus: "Mach das! Mach das, Literatur ist in dir drin, ist für dich da, du kannst sie selber machen!" Und auch da ist Eichendorff ein gutes Beispiel. Ich krieg das jetzt als Zitat nicht mehr hin, aber er hat gesagt, in jedem Kind schläft ein Dichter. Man muss ihn nur wecken. Das ist bei allen da und Hip-Hop ist so ein Weg, Leute einfach dazu zu bringen, einfach einen Stift in die Hand zu nehmen und zu dichten.

Martin Risel: Vielleicht noch ein anderes Beispiel, wo es die Frage ist, geht das in die gleiche Richtung? In Zusammenarbeit mit der Berliner Schulbehörde will der bekannte Berliner MC Harris demnächst ein Album herausbringen, auf dem namhafte Rapper wie etwa Sido zu so etwas wie Pädagogen werden und Unterrichtsthemen als Rap darbieten. MC Harris war bisher eher so ein Spaßrapper, Sido war mal der Böse. Will Rap sich auf diese Weise irgendwie gesellschaftsfähig machen oder sogar pädagogisch wertvoller?

Verlan: Es sind ja nun mal erst mal einzelne Leute, die das machen. Und ich glaube, je spaßiger und lustiger sie in ihrer Jugend unterwegs waren, irgendwann weht sie so der Wind der eigenen Vergänglichkeit an. Ich meine, diese ganzen Provokations- und Spaßtexte, die hört man sich an, die sind auch im Club und auf der Party ganz toll, aber sie haben natürlich keine Wirkung, dass man, so wie jetzt, ich meine, wir haben "Nichtsnutz" von den Massiven Tönen gerade gehört. Das Lied ist 17 Jahre alt oder so.

Risel: Von 1996.

Verlan: Und das lässt sich immer noch - das ist immer noch toll zu hören. Und wer kümmert sich noch um die Spaßraps von Harris von 2005? Man hört sie nicht mehr, weil sie auch - sie waren gut und sie waren lustig in der Zeit, aber sie waren nicht irgendwie wichtig. Und ich glaube, die Jungs haben in ihrem Inneren einfach schon auch das Bedürfnis, was zu sagen. Und irgendwas zu sagen, was auch bleibt.

Scholl: Jetzt ist der Name Sido schon gefallen, Herr Verlan, und ich meine, manchen Eltern werden die Haare noch zu Berge gestanden haben, wenn sie aus dem Kinderzimmer Sidos berüchtigten, Achtung, "Arschficksong" gehört haben. Und jetzt soll er also auf so einem Album praktisch ja irgendwie als Familienvater und Pädagoge wirken. Ist das überhaupt glaubwürdig? Das hört sich in meinen Ohren so ein bisschen auch nach ranwanzen an, so einerseits an die Kinder, die eben jetzt keine Lust mehr auf die traditionelle, ja auf den traditionellen Schulunterricht haben, andererseits an die Eltern, denen man sagt, ach, guck mal, die guten Rapper, die sind selber ganz brav und wollen, dass ihre Kinder gebildet werden.

Verlan: Also ich glaube, die Jugendlichen merken das sehr schnell, was da passiert. Wenn wir Sido als Beispiel einfach nehmen, er war schon Vater, als er seine anderen Songs gemacht hat. Und er hat auch in Interviews gesagt, dass er gar nicht möchte, dass sein Sohn seine eigenen Texte von damals oder wie auch immer, seine eigenen Texte hören will. Das scheint mir jetzt schon ein sehr, eine sehr abrupte Wendung in seinem Leben zu sein, wenn ihn das jetzt plötzlich doch interessiert, was seine - er hat immer gesagt, die Eltern sind für ihre Kinder selber verantwortlich und was sie denen zu hören geben. Und er würde seinen Kindern seine Songs und die Sachen, die seine Freunde machen, eben nicht zu hören geben.

Risel: Klingt danach, als ob Sie das nicht so ganz glaubwürdig finden.

Verlan: Nein. Finde ich nicht. Er muss jetzt - ich meine, es gab immer Wendungen in Biografien. Er muss jetzt den Beweis liefern, dass er wirklich was sagen will. Und den Beweis muss er nicht nur jetzt auf diesem Album eben liefern, sondern, ich meine, er ist eine öffentliche Persönlichkeit, er hat Auftritte in Talkshows, das kann er ja machen ...

Martin Risel: Sie haben noch ein weiteres Stück aus den "Rap Texten" ausgewählt, das ist dann wirklich glaubwürdig, das ist "Credibility", das geht an die Wurzeln deutscher Hip-Hop-Kultur. Zu den ersten gehörten vor gut 20 Jahren ja Advanced Chemistry aus Heidelberg, "An das Publikum" heißt ihr Song, auch wieder mit einem literarischen Bezug. Zunächst aber hört man ziemlich krachige Wurzeln dabei.

((Musikeinspielung))

Joachim Scholl: "An das Publikum", frei nach Kurt Tucholsky. Deutscher Hip-Hop von Advanced Chemistry. Auch dieser Text findet sich als Schullektüre in dem Reclam-Bändchen "Rap Texte", das Sascha Verlan herausgegeben hat.

Herr Verlan, dass man Rap und Hip-Hop oft assoziiert mit finster blickenden Schwarzen, mit schweren Goldketten, protzigen Karren, halbnackten Frauen, das hat mit dem Gangsta-Rap zu tun, der in den letzten zehn Jahren wirklich das öffentliche Bild der Musik bestimmt mit seiner sexistisch-gewalttätigen Ikonografie. Das war anfangs anders. Es gab diesen kritischen, ja pädagogischen Ansatz, durchaus den Rapper als "Teacher", als Lehrer. Wie ging das zu?

Verlan: Mich stört da die Vergangenheit. Das ist immer dagewesen. Wir haben eben die Hip-Hop-Kultur, die sich entwickelt, die da ist, und wir haben die Resonanz in den Medien. Und da hat der Gangsta-Rap in den letzten Jahren einfach die Überhand gewonnen. Das heißt aber nicht, dass es die Lehrer, die "Teacher" nicht die ganze Zeit und immer gab. Die sind da und wenn wir auf die Entstehungsgeschichte von Hip-Hop gucken in den USA, in New York, in den Armenvierteln, dann ist das völlig klar, das Bildungssystem war völlig zerrüttet, und dann sind plötzlich einfach Menschen wichtig geworden, die den Jugendlichen einfach Werte und auch ganz konkrete Inhalte einfach vermitteln.

Also, wenn Schule versagt, dann findet der Bildungsdrang der Jugendlichen, der Menschen einen anderen Weg. Und da war Hip-Hop eben eine ganz, ganz wichtige Bildungsinstanz, soziale Instanz, Stichwort "Zulu Nation", eben dass die es tatsächlich geschafft haben, dass nicht Streitigkeiten über körperliche Gewalt, sondern über diese Reimduelle, über Freestyle Battles, über Graffiti und Breakdance Battles ausgetragen wurden und eben nicht mehr mit Messern und Baseballschlägern.

Das ist so dieser Ursprung von Hip-Hop, von dem viele auch immer reden und zurecht auch schwärmen. Der ist im Keim immer, in jedem Jugendhaus immer auch noch da. Das sind die "Teacher", das sind die Älteren, die den Jüngeren zeigen, sei das DJ- und Studioequipment, sei das, wie man reimt. Und eben auch, worüber man erzählt.

Risel: In Deutschland gab und gibt es ja diesen Graben zwischen den, wenn man so will, bildungsbürgerlichen Hip-Hoppern, viele aus Hamburg oder Stuttgart, aber solche Conscious Rapper gibt es eigentlich überall, und auf der anderen Seite dem ach-so-harten Berliner Pseudo-Ghettorap der letzten zehn Jahre, also Bushido, Sido, andere Leute von Aggro Berlin. Beide Richtungen meinen ja ehrlich und authentisch zu sein - wie sehen Sie das?

Verlan: Ich meine, sie sind beide authentisch. Wenn wir Jan Delay als Beispiel nehmen, Vater ist Musiker, das ist für mich eine völlig authentische Künstlerbiografie. Der verbiegt sich nicht - er kann nicht über, er kann über, und das hat er ja zu Genüge getan, auch extrem politisch gerappt, soziale Themen aufgegriffen, aber er kann eben nicht von einem Gangsterleben erzählen, weil er es nicht erlebt hat.

Bei den Jungs aus Berlin ist immer so ein bisschen die Frage: Es wurde eben in den Medien authentisch immer mit kleinkriminell, bildungsfern, asozial authentisch gleichgesetzt. Also nicht authentisch im Sinne von: Jemand ist glaubwürdig, so wie ein Udo Lindenberg glaubwürdig ist oder vielleicht nicht glaubwürdig ist, sondern das wurde immer gleichgesetzt mit diesen amerikanischen Vorbildern, die ja alle irgendwie aus der Gosse kommen. Und es gab ja diesen, diesen Wettkampf auch, immer noch härter zu sein. Also angefangen hat es mit Cool Savas, der war dann nicht hart genug, dann kamen so Leute wie Bushido, dann hat man auch plötzlich herausgekriegt, aha, Moment mal, Bushido war ja auf dem Gymnasium, ist das denn nun wirklicher Unterschichtsrap?

Und dann kam so jemand wie Massiv dazu, dann kam diese Geschichte, dass Massiv angeschossen wird, dann kam die Theorie, ach, vielleicht ist aber das auch nicht echt, sondern das war vielleicht nur ein Marketinggag, weil, ich meine, 50 Cent hat immerhin neun Einschusslöcher in seinem Körper und Massiv nur einen und der ist vielleicht noch nicht mal echt.

Also diese ganze Diskussion, Sie lachen, die ist, ja, wenn man sie so darstellt und verknappt, dann ist das lächerlich, aber im Prinzip ging es einfach darum, wer ist eigentlich noch asozialer. Und Glaubwürdigkeit war dann dieses Stichwort, das damit fiel, aber glaubwürdig ...

Scholl: Sascha Verlan, wir müssen leider auf die Uhr schauen. Und wir wollen nämlich unbedingt noch ein Stück hören, dass Sie sich, dass sie ausgesucht haben, und zwar ein Stück von Yassir. Und Sie haben es mit Bedacht an den Schluss gesetzt. Sagen Sie uns noch ein Wort dazu, bitte?

Verlan: Yassir ist nun einer, der, in diesem amerikanischen Verständnis wirklich echt ist. Der hat im Knast angefangen zu rappen, der weiß, wovon er spricht, wenn er von Drogengeschäften, wenn er von Gewalt, von Kriminalität spricht. Und interessanterweise ist bei ihm die Haltung und der Duktus ein völlig anderer. Er hat das erlebt, er sagt erstens, ich kann da drauf nicht stolz sein, weil es mein Leben kaputtgemacht hat. Und ich kann damit schon gar nicht angeben, weil, ich habe selber zwei Söhne, und was ich auf gar keinen Fall will, ist, dass meine Söhne so ein Leben führen, wie ich es zu leben habe.

Er ist ausgewiesen, er lebt jetzt fern von seiner Familie in Marokko seit zweieinhalb Jahren. Also, das ist ein Schicksal, das er in seiner Musik ausdrückt, und das ist, hören Sie sich den Text an, den Song an. Das ist glaubwürdig.

Scholl: Sascha Verlan. Er hat den aktuellen Reclam-Band "Rap Texte" für den Schulunterricht herausgegeben. Ich danke für Ihren Besuch und das Gespräch.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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