Lyriksommer

Wie argentinische Juristen mit Poesie die Vergangenheit aufarbeiten

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Der argentinische Staatspräsident General Jorge Videla (r) und Admiral Emilio Massera (l), Mitglieder der von 1976 bis 1983 regierenden Militärjunta in Argentinien. © picture alliance / dpa / AFP
Von Dirk Fuhrig · 19.08.2015
Lyrik und Juristerei scheinen zunächst wenig miteinander zu tun zu haben - in Argentinien dichten Anwälte, um die Militärdiktatur aufzuarbeiten. Unser Korrespondent Dirk Fuhrig hat eine junge argentinische Poetin und Rechtsanwältin getroffen.
"So lange Zeit, Tage, Monate, Jahre. Warten, um Dich kennen zu lernen. Dich berühren zu können. Dich in der Nähe zu haben.
So lange Zeit, Tage, Monate, Jahre. Von diesem Moment träumen. Dich ansehen zu können. Dich wiederzuerkennen."
Maria Ester Alonso Morales hat ihr Gedicht über die unerträgliche Zeit des Wartens auf einen "Verschwundenen" der Präsidentin der "Großmütter der Plaza de Mayo" gewidmet:
"Eine Umarmung, die sich in der Zeit verspätet hat. Für Estela de Carlotto und ihre Familie."
Estela de Carlotto ist die bekannteste der "Großmütter", die sich in Argentinien für die Aufarbeitung der Verbrechen einsetzen, die zwischen 1976 und 1983 unter der Militär-Diktatur begangen wurden. Die meisten Opfer wurden nicht offiziell verhaftet, sondern "verschwanden" einfach. Viele Angehörige wissen bis heute nicht genau, was mit ihnen geschah.
"Die Sorgen, die Ängste. Und wenn wir Dich nicht finden. Und wenn Du nicht auftauchst. Und wenn ich kraftlos auf halber Strecke stehenbleibe. So nah und doch so fern. Manche hätten daran verrückt werden können."
Die argentinischen Militärs folterten und ermordeten nicht nur mehrere Zehntausend Erwachsene. Etwa 500 Kleinkinder wurden ihren leiblichen Eltern geraubt und regimetreuen Ehepaaren zur Adoption gegeben. Einer der spektakulärsten Fälle ist der von Guido – dem Enkel Estela de Carlottos. Vor ziemlich genau einem Jahr stellte sich heraus, dass der heute 37-jährige Musiker seiner Mutter Laura de Carlotto direkt nach der Geburt im Gefängnis weggenommen wurde.
"Ich habe ein Buch über Laura geschrieben",
... sagt der Menschenrechts-Anwalt und Schriftsteller Guido Leonardo Croxatto.
"...deren Kind Guido heißt wie ich. Guido wurde vor einem Jahr wiedergefunden, seine Identität, Und seitdem muss ich überlegen, ob ich die Arbeit veröffentliche oder nicht. Das ist auch eine ethische Frage."
Guido Croxatto ist mit seinen 32 Jahren fast genauso alt wie jener andere "Guido", der seiner Mutter als Neugeborener weggenommen wurde.
"Guido zu heißen, das war auch für mich schon ein bisschen schwer. Der Name, das ist ein wichtiger Punkt in der Poesie."
Croxatto schreibt derzeit seine juristische Doktorarbeit an der Freien Universität Berlin. Zuvor hat er beim Menschrechtssekretariat des argentinischen Justizministeriums gearbeitet. Er ist aber nicht nur ein brillanter Jurist, der sich mit Regeln und Gesetzen auskennt. Er schreibt auch Gedichte.
"Ich finde, durch Poesie kann man ein Bewusstsein schaffen, was manchmal in der Rechtswissenschaft schwierig ist."
Großer Stellenwert von Poesie und Dichtung
Dass Richter und Rechtsanwälte, denen oft ja das Klischee von nüchternen Paragraphenreitern anhaftet, Literatur, gar Gedichte schreiben, ist nur auf den ersten Blick ungewöhnlich. Die Aufarbeitung der Vergangenheit gerade in Argentinien wurde auch von Künstlern und Literaten befördert:
"Der Hauptpunkt war, dass einige der Protagonisten des Kampfes gegen die Straflosigkeit in Argentinien nicht nur junge Rechtsanwälte (waren), sondern gleichzeitig Poeten, die kämpften, um Bewusstsein zu schaffen in Bezug auf Menschenrechte, Straflosigkeit. Wir machen das also nicht nur in Prozessen, in der Justiz, sondern auch als Schriftsteller und Poeten."
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es ja auch in Deutschland Schriftsteller und Intellektuelle, die den Anstoß zu einer Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Nazi-Diktatur gaben. Croxatto geht heute sogar so weit, dass er seine Vorlesungen mit Poesie anreichert:
"Zum Beispiel, wenn ich ein Gedicht von Paul Celan nehme und die Diskussion über Martin Heidegger in der Nazizeit zusammenfassen will, das ist für die Studenten manchmal viel besser und schneller."
Dass die politische Lyrik in Lateinamerika diese Bedeutung in der politischen Auseinandersetzung hat, hat mit dem vergleichsweise viel größeren Stellenwert von Poesie, von Dichtung im Allgemeinen zu tun.
Alonso Morales: "Die Gefühle sind condensado – komprimiert. Und das macht es für mich so besonders. Ich versuche, in wenigen Worten etwas zu erzählen und eine Gefühl auszurücken."
... sagt Maria Ester Alonso Morales. Ihr Vater wurde während der Diktatur ermordet, ihre Mutter hat nie darüber geredet, was ihr selbst in einem der Folterzentren der Generäle angetan wurde.
Maria Ester Alsonso Morales lebt seit einigen Jahren in Hamburg. Sie hat dort eine Anwaltskanzlei - und schreibt Gedichte.
"Am Anfang waren nur diese Gefühle, diese Traurigkeit, diese Nostalgie. Und ich habe auch geschrieben ein Gedicht über Estela de Carloto, als sie ihr Enkelkind gefunden hat."
Auch für Maria Ester Alsonso Morales ist "Guido", der im August 2014 plötzlich entdeckte, wer seine leiblichen Eltern waren, ein ganz einschneidender Fall. Ein Moment, in dem Leben und Literatur, Traumata der Vergangenheit und deren Bewältigung durch Poesie kondensieren.
"Heute sahst Du uns, Guido. Heute bist Du aufgetaucht. Endlich können wir dieses wunderbare Nachricht aus Argentinien verkünden. Heute haben wir einen weiteren Enkel wiedergefunden. Heute können wir sagen, wie sehr wir Dich lieben. Wie sehr Dich Deine Eltern liebten."
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