Lyrikschreiben ist "Schrumpfarbeit"

Moderation: Jürgen König · 21.04.2006
Lyrik ist ein Medium, in dem jedes Wort für sich eine Bedeutung hat, sagt die in Berlin geborene Dichterin Uljana Wolf. In ihren Gedichten aus dem Debütband "kochanie ich habe brot gekauft" begibt sich die Autorin auf eine geschichtliche Spurensuche. Sie erzählt von Deutschland und Polen, von Vätern und Töchtern, aber auch von Liebe und Versöhnung.
Jürgen König: Uljana Wolf, geboren 1979 in Berlin-Mitte, aufgewachsen in einem Neubaugebiet am Rande von Berlin. Mit zwölf Jahren schreibt sie ihre ersten Texte, lernt in einer Literaturwerkstatt ihr erstes literarisches Handwerkszeug, schreibt Prosa zunächst, dann merkt sie, dass ihre Sätze immer knapper werden, schließlich verlegt sie sich ganz und gar auf Gedichte, bekommt Preise für diese Gedichte. Für den im letzten Jahr veröffentlichten ersten Gedichtband "kochanie ich habe brot gekauft", dafür bekommt sie gleich den Peter-Huchel-Preis – und das ist die höchste Auszeichnung für Lyriker, die es im deutschsprachigen Raum überhaupt gibt. Guten Tag, Uljana Wolf.

Uljana Wolf: Guten Tag.

König: Dass Sie sich über den Preis gefreut haben, lässt sich denken. Auch ein wenig gefürchtet, so viel Ehre?

Wolf: Ja, das war schon ein zweischneidiges Gefühl, als ich das erfahren habe.

König: Was ist die andere Schneide?

Wolf: Man kann es mit dem Wort "Ehrfurcht" ganz gut beschreiben, weil da die "Furcht" drin ist wie auch die "Ehrung". Schon das Gefühl, jetzt auf einmal ganz viele Erwartungen vielleicht zu sehen, die an mich gestellt werden mit diesem Preis.

König: Es ist ja eigentlich auch schade. Sie haben im Grunde schon alles erreicht, was man als Lyriker in Deutschland erreichen kann - und Sie fangen gerade erst an. Wie geht es denn jetzt noch weiter?

Wolf: Na, jetzt bin ich ganz streng mit mir und mache einfach so weiter, als wäre nichts geschehen - was natürlich nicht geht. Also es ist natürlich ein ganz toller Fortschritt, der mit dem Buch, mit dem Preis erreicht ist. Aber ich werde einfach im kleinen Kämmerlein weiter schreiben.

König: Sie haben Literatur-, Kulturwissenschaften und Anglistik an der Berliner Humboldt-Uni studiert, arbeiten in einer Buchhandlung in Berlin-Mitte. Das ist aber alles nicht das Eigentliche, das ist nur so das Tun nebenbei für den schnöden Unterhalt.

Wolf: Ja, genau.

König: Was ist das Eigentliche?

Wolf: Das Eigentliche liegt irgendwo dazwischen, zwischen dem Gang vom Buchladen nach Hause oder an den Rändern von dem, was man normalerweise macht. Also gerade Lyrik zu schreiben, das kann man nicht einfach nur den ganzen Tag machen. Ich kann nicht den ganzen Tag am Schreibtisch sitzen.

König: Lässt sich denken.

Wolf: Ja, genau. Also, alle Wege dazwischen, alles, was man mitnimmt, ist wichtig.

König: Wann schreiben Sie? Kommen sie morgens früh, abends spät, immer?

Wolf: Wann es kommt. Wann es mich überkommt. Im tiefsten...

König: Also es gibt ein "Es", das da kommt?

Wolf: Ja genau, würde ich schon sagen. Genau. Ich brauche auf jeden Fall aber vorher und nachher ganz viel Ruhe, um mich einfach zu konzentrieren zu können auf diese andere Arbeit, diese andere Sprechweise, die dann sich im Kopf formt. Also es geht nicht, dass ich morgens noch arbeite irgendwo anders und mich dann abends hinsetze und umschalte.

König: Sie haben mit zwölf angefangen. Können Sie sich noch erinnern, wie das anfing mit dem Schreiben?

Wolf: Leider nicht mehr. Ich weiß nur, dass ich diese ersten Texte irgendwann geschrieben habe. Und die waren natürlich ganz kitschig gereimt, ganz viel romantisches Zeug, was man irgendwo anders aufgeschnappt hatte. Aber warum ich eigentlich das machen wollte, das weiß ich nicht.

König: Nun schreiben ja viele in diesem Alter...

Wolf: Ja.

König: Sie haben aber nicht wieder damit aufgehört.

Wolf: Ja.

König: Warum nicht?

Wolf: Es wurde mir eine ganz wichtige Ausdrucksweise, eine ganz wichtige Art, die Welt durch diese Sprache zu sehen. Es hat mir einfach immer unheimlich viel Spaß gemacht und es war ganz wichtig, als ich gemerkt habe, dass ich da was gefunden habe...

König: Können Sie ein Beispiel dafür geben?

Wolf: Nee!

König: Vielleicht lesen Sie uns doch ein Stück oder mehrere, damit unsere Hörerinnen und Hörer auch wissen, wovon hier überhaupt die Rede ist, damit sie Uljana Wolf überhaupt mal hören. Sie haben ausgesucht "mein flurbuch". Was ist das?

Wolf: Ja ein "Flurbuch" ist ein altes Wort für ein Grundbuch, in dem Grundbesitz eingetragen wird, ein Katasterbuch. Und in dem Gedicht geht es eben um Spurensuche, um Generationen, sozusagen die Einschreibungen in die Geschichte.

König: Und es ist ein Zyklus aus acht Gedichten.

Wolf: Genau, acht kurzen Teilen.

König: Und den hören wir jetzt.

Wolf:

mein flurbuch

1

meine väter
sind einfache männer

sie haben töchter
wie ich eine bin

wir fragen geschickt
wir tragen gestickt

unseres vaters wort
noch in die dunkelsten wälder


2

meine väter
sind keine einfachen männer

sie haben töchter
wie ich eine bin

wir sagen geschickt
wir jagen gespickt

unseres vaters wort
noch in den dunkelsten wäldern


3

meine münder
sind keine einfachen väter

der erste spricht
ich habe vermessen

der zweite schweigt
ich wurde vergessen

der rest ist sich uneins
der rest setzt sich durch


4

meine väter
sind einfache vermesser

der erste geht
der zweite ruft
der dritte verbindet
die länder zu zahlen


5

meine väter
sind keine einfachen vermesser

der erste bleibt
der zweite weint
der dritte trägt ein
was die karten verschweigen


6

meine münder
sind einfache töchter

unsere flurbücher
tragen wir emsig
unter den herzen

wir schreiben hinein:
die liebe hat maße
verlässlich mit datum und ort


7

meine töchter
sind keine einfachen münder

wir trauern lange
wir lauern trotzig

wir schreiben in klammern
die liebe streunt aber doch
umher in den karten

wir habens gesehen


8

meine väter
sind keine einfachen reime

die liebe raucht um die wette
mit einer filterzigarette

meine töchter
sind keine albernen münder

aber das musste sein


König: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Uljana Wolf. Sie las uns einen Zyklus aus acht Gedichten mit dem Titel "mein flurbuch". Frau Wolf, ist Dichten ein Handwerk?

Wolf: Auch, ja. Ja, auch.

König: Können Sie uns einen Einblick geben in die Lyrikwerkstatt? Wie bringt man die Sprache zum Klingen? Verraten Sie uns einen Dichtertrick.

Wolf: Einen Dichtertrick. Der Dichtertrick, von dem ich denke, dass er der wichtigste ist, ist: Kürzen, Kürzen, Kürzen. Was ich in Gedichten gar nicht mag oder was ich denke, was durchaus auch schlechte Gedichte hervorbringt, ist Geschwätzigkeit. Wenn man nicht vertraut darauf, dass Lyrik ein Medium ist, in dem jedes Wort für sich eine Bedeutung hat und Klang, Bedeutung, Inhalt, alles Mögliche trägt. Und mehr tragen kann als in der Prosa, mehr über sich hinausgehen kann. Und wenn man diesem Wort nicht traut, sondern noch ein anderes dazu packt oder vielleicht noch ein zweites dazu - damit man merkt: Jetzt ist es wirklich ganz deutlich - ist es meistens schon zu viel.

König: Das heißt, Ihre Texte wachsen nicht, sie schrumpfen?

Wolf: Ja. Ja, ja. Es ist Schrumpfarbeit.


König: Es ist auch brutal, sich immer von dem, was man vielleicht gerade auch herzenslieb aus sich heraus geschrieben hat, wieder wegzunehmen.

Wolf: Sehr brutal, sehr brutal. Aber das ist die Werkstatt. Man kann, wenn es einem zu brutal ist, kann man sich so einen virtuellen oder irgendwie Ordner anlegen, in den die ganzen weggeschnipselten Teile reinkommen, vielleicht...

König: So was gibt es, einen Resteordner?

Wolf: Ja, so was. Also Halde oder es gibt, jeder nennt das irgendwie anders, ich glaube, das gibt es, wenn man sich nicht ganz trennen kann, dass man einige der Versatzstücke dort hineintut und manchmal passen sie woanders mit rein.

König: Was ist überhaupt ein Gedicht?

Wolf: Das ist die schwierigste Frage von allen. Ja. Ein Gedicht ist ein kondensiertes...

König: Jetzt kommt "Surrogat"...

Wolf: Ja. Es ist wirklich eine schwere Frage und eigentlich behelfe ich mich meistens damit, dass ich irgendwelche Umschreibungen mache. Denn, was ein Gedicht ist, ist ganz schwer zu sagen. Auch was ein gutes Gedicht ist, ist schwer zu sagen. Meistens kann man nur den Finger drauflegen und sagen: Genau dieses.

König: Wie würden Sie das dann begründen?

Wolf: Ich würde vielleicht sagen, dieses Gedicht ist sprachlich sehr genau gearbeitet, jedes Wort stimmt, es hat eine ganz tolle Klangkomposition. Ich würde vielleicht sagen, es läuft am Ende auf ein Bild heraus, was ich so noch nie gesehen habe, was mir irgendetwas Neues zeigt oder mich hineinstößt in eine Sprachwelt, sozusagen Erkenntnis bringt oder mich einfach sinnlich anspricht. Ja, das ist jetzt sehr allgemein gehalten, aber man braucht eben einen Text dazu.

König: Es gibt sehr viele Väter in Ihren Gedichten. Wo kommen die alle her?

Wolf: Die kommen daher, dass ich irgendwann gemerkt habe, was mich an Spurensuche, Geschichtssuche interessiert. Viele Gedichte in dem Band handeln von Deutschland und Polen. Das ist vor allen Dingen die Vätergeneration und das ist vor allen Dingen die Generation, die eigentlich nicht so viel spricht über das, was sie getan hat oder was da los war. Ich glaube, das ist eine... Diese Väter sind sehr schweigsame Väter in diesem Buch und mit dieser Kommunikation oder Möglichkeit von Kommunikation, damit beschäftigen sich die Gedichte.

König: Was mir inhaltlich sehr aufgefallen ist, dass es immer zwei Pole gibt. Also Vater und Tochter, das Vertraute - das Fremde, das Abwesende - das Vorhandene, das man da so sieht. Oder auch das Private und das, sagen wir, Universale. Denken Sie, leben Sie, empfinden Sie so in diesen polaren Kategorien?

Wolf: Eigentlich gar nicht und darum geht es in den Gedichten. Das ist natürlich ein ganz einfacher Trick, ganz simpel, so ein Dichtertrick über Schwarz und Weiß und so weiter zu gehen, aber eigentlich geht es darum, dass man immer nur in dem Dazwischen eine Art Wahrheit oder Wirklichkeit ansiedeln kann, dass verschiedene Möglichkeiten durchgespielt werden in den Gedichten – ja oder nein, das oder jenes - und eben derselbe Zustand ganz anders beschrieben werden kann. Zum Beispiel in den Gedichten "aufwachraum", da geht es um ein Aufwachen im Selbst, also sich selbst gewahr werden, und das kann einmal ganz positiv beschrieben werden und einmal ganz negativ. Und irgendwo dazwischen liegt immer die Wahrheit, wenn es sie denn gibt.

König: Lyrik wird ja von vielen Menschen als eher unzugänglich oder sagen wir mal als schwierig empfunden. Geht Ihnen das auch so, wenn Sie die Lyrik anderer lesen?

Wolf: Jein, muss ich sagen. Jein. Gedichte lesen ist natürlich ein beglückender, aber auch ein schwieriger Vorgang, weil er einfach Arbeit vom Leser erfordert. Also man muss das Gedicht auch immer wieder selbst vervollständigen, wenn man es liest. Und das ist ja auch das Abenteuer daran. Und insofern würde ich schon sagen, dass es auch schwer fällt.

König: Lesen Sie uns noch eins zum Ende des Gesprächs?

Wolf: Ja, gerne.

König: Dann bitte ich, eines Ihrer Wahl.

Wolf: Eines meiner Wahl. Dann würde ich doch eigentlich gern. …"die hunde" kann man nur zusammen lesen… Es ist alles immer so zusammen... Den "holzfäller".

König: Warum den "holzfäller"?

Wolf: Weil der so ein lustiges Gedicht eigentlich ist. Und so ein sprachratterndes...

König: Ein "sprachratterndes"?

Wolf: Ja, also eins, was wirklich auf die Sounds geht, so. Das lese ich eigentlich sehr gerne.

holzfäller

der hatte nachts
hat arme
ganze pfade
unterholz
die adern wuchern halb im dunkeln fort

der hatte nachts
hat hände
fängen ähnlich
hat ach hecken ausgezehrt
von beerenrot zu not

der hatte nachts
hat äxte
stoß und schaftgeschwader
roh geschwungen
schwer gerodet der

hat arme hände äxte
ächzend späne ausgezählt
fasernackt geackert
nein
der hat gehackert


König: Vielen Dank. Die Lyrikerin Uljana Wolf im Gespräch. Ihr mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichneter Gedichtband "kochanie ich habe brot gekauft", versehen mit Zeichnungen von Andreas Töpfer, ist bei Koobooks erschienen, hat 72 Seiten, kostet 13,80 Euro.
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