Lyrik

Gedichte für die Mutter

Altes Buch mit vergilbten Seiten und angestoßenen Kanten am Buchdeckel, aufgenommen am 2.4.2012. Foto: Jens Kalaene dpa/lbn
In Anne Carsons Gedichte dreht sich viel um ihre Mutter. © dpa / Jens Kalaene
Von André Hatting · 01.07.2014
Anne Carson gilt als eine der wichtigsten und ungewöhnlichsten Lyrikerinnen englischer Sprache. In ihrem Band "Decreation", der nun auf Deutsch erscheint, drehen sich die Gedichte oft um die Beziehung zu ihrer betagten Mutter.
Anne Carson verkauft sich erstaunlich gut für eine Lyrikerin. Vielleicht liegt es daran, dass die Verse der Kanadierin gern im Prosaparlando daherkommen. Auch thematisch sind viele der Gedichte aus "Decreation" gut zugänglich. Sie kreisen oft, wie schon in früheren Bänden, um die Beziehung zu ihrer bejahrten Mutter:
"Wenn ich mit meiner Mutter spreche, mache ich es schön. Bücherrücken beim Telefon.
Büroklammern in einer Porzellanschale. Radiergummisprenkel auf dem Tisch. Sie spricht voll Sehnsucht Vom Tod. Ich beginne alle Büroklammern in die andere Richtung zu kippen."
Der Anfang des Gedichts "Verbindungen". Eine für viele vertraute Situation, das Telefonat mit der Mutter, die innere Gemütsverfassung spiegelt die äußere: Verbindungen in vielfacher Bedeutung. Im englischen Original heißt das Poem übrigens "Lines" und bietet damit noch eine weitere Ebene, wie ein paar Verse später deutlich wird:
"Die/ Büroklammern/ sind auf gleicher Linie, unsterblich." Es ist nicht die einzige Stelle, an der deutlich wird, welchen Vorteil zweisprachige Ausgaben haben.
Carson kann aber noch anders: "Dein glasiger Wind bricht sich am ruflosen Ufer und kräuselt sich um die Rose / Welches Messer hat diese Stunde / gehäutet." ("Es hilft nichts"). Hier beginnt der eigentliche Carson-Kosmos, in dem Metaphern verdichtet werden, bis sie zur Chiffre fermentieren. Das erinnert nicht zufällig an Paul Celan, dem die Komparatistin Carson vor ein paar Jahren eine große Studie gewidmet hat.
Viele Auszeichnungen für Anne Carson
Anne Carson, Jahrgang 1950, im angloamerikanischen Raum vielfach ausgezeichnet, bei uns dagegen noch wenig bekannt, ist in erster Linie eine erstaunliche Brückenbauerin. Das beweist sie im essayistischen Teil des Buches. Es ist der umfangreichere.
Da plaudern ein griechischer Philosoph der Antike mit einem italienischen Regisseur aus dem 20. Jahrhundert und Immanuel Kant befragt die Schauspielerin Monica Vitti. "Quad" wiederum ist ein platonischer Dialog über das gleichnamige Fernsehspiel von Samuel Beckett.
Der titelgebende Essay "Decreation" beschreibt einen Gedankenaustausch über Gott zwischen Sappho, Mystikerinnen aus dem 13. Jahrhundert und modernen Mystikerinnen - Carsons zweites, weites Themenfeld, das sich leitmotivisch durch ihre Bücher zieht: Gott, das Erhabene, die Mystik. Diese Korrespondenzen sind keine leichte Kost. Böse Zungen haben der 54-Jährigen deshalb vorgeworfen, sie schicke ihren Bänden gern die Gedichte voran, um hinten die akademischen Essays zu verstecken.
Denn darin folgt die Professorin für Altphilologie ganz ihrem Lustprinzip: "Wenn man sie lässt, tun Wörter, was sie wollen und was sie müssen". Bei Carson müssen sie offenbar eher der "pontifikalen Linie" (Brecht) folgen.
Ein Obligo, das nicht jeder zwingend nachvollziehen muss. Wenn Longinus von Antonioni träumt, ist das, je nach Geschmack, entweder eine originelle Idee oder postmoderne Spielerei.

Anne Carseon: Decreation. Gedichte, Oper, Essay
S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main, 2014
252 Seiten, 24,99 Euro