Lyrik als Laboratorium

Steven Uhly im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 09.10.2013
Brasilien präsentiert sich als Gastland der weltweit größten Buchmesse mit seiner facettenreichen Literatur. Sehr prägend für die brasilianische Lyrik war die Zeit der Militärdiktatur von 1964 bis 1984, wie der Schriftsteller Steven Uhly erklärt.
Liane von Billerbeck: Brasilien ist dieses Jahr das Gastland der Frankfurter Buchmesse. Brasilien, das einzige Land Südamerikas, in dem portugiesisch gesprochen und geschrieben wird. Brasilien, das bis heute von seiner kolonialen Geschichte geprägt ist, einer Zeit, in der die einheimischen Indigenos unterdrückt und die Schwarzafrikaner auf den Plantagen versklavt wurden. Und diese sozialen Gegensätze, der Kampf um Freiheit und die Anerkennung der Kulturen, der hat Spuren hinterlassen – in der Literatur, in der Sprache und auch in der Musik.

Ebenso prägend, besonders für die brasilianische Lyrik, war die Zeit der Militärdiktatur von 1964 bis 1984, und mit der Literatur in dieser Zeit hat sich mein Gesprächspartner befasst. Steven Uhly, geboren 1964, selber Schriftsteller und Nachdichter von Literatur und Lyrik aus dem Spanischen und Portugiesischen. Er hat mehrere Jahre in Brasilien gelebt, dort unter anderem das Deutsche Institut der Bundesuniversität von Pará geleitet. Sie kennen ihn vielleicht auch als Autor des Buches "Adams Fuge". Herr Uhly, ich grüße Sie!

Steven Uhly: Hallo!

von Billerbeck: Brasilien, das ist ja ein sehr buntes Land. Brasilianer können Wurzeln auf drei Kontinenten haben: in Europa, in Afrika und in der indigenen Kultur Südamerikas. Was bitte ist denn dann brasilianische Literatur?

Uhly: Da darf man nicht die Brasilianer japanischer Herkunft vergessen. Es gibt in São Paulo allein, ich glaube, inzwischen 700.000 oder 800.000 brasilianische Japaner oder japanische Brasilianer. Historisch gesehen haben Sie natürlich recht: Die Portugiesen haben das Land erobert, haben erst mal die Indios unterjocht oder eben auch massakriert, und dann brauchten sie für die vielen schönen Rohstoffe robuste Arbeiter, die haben sie sich aus Afrika geholt. Um dieses Dreieck dreht sich natürlich sehr vieles, es ist klar.

Was die Lyrik ist in dem Zusammenhang: Die Lyrik ist meines Erachtens, na ja, so ein Laboratorium, in dem die Dichter versuchen, das zu integrieren, was sie, wenn sie vorurteilslos hinschauen, was sie vorfinden in der brasilianischen Wirklichkeit.

von Billerbeck: Wie machen sie das?

"Als letztes Land der Erde die Sklaverei abgeschafft"
Uhly: Das war eigentlich Oswald de Andrade, ein Dichter des Modernismus, also einer Kulturbewegung, die aus Europa kam, der 1930 gesagt hat: Wir müssen einfach zum Kannibalismus zurückkehren - und damit meinte er natürlich nicht den historischen Kannibalismus, sondern er meinte so eine Art kulturellen Kannibalismus –, nämlich einfach alles in uns reinstopfen, worüber wir stolpern, und halt gucken, was dabei rauskommt. Das war in gewisser Weise eine Gegenbewegung zur offiziellen Literatur und auch Haltung der Regierung, die wesentlich von Gilberto Freyre vorgegeben wurde.

Der hat nämlich 1936 ein Buch herausgebracht, "Herrenhaus und Sklavenhütte", und in diesem Buch hat er dann halt festgestellt, Brasilien habe bereits die Rassendemokratie - so hat er das genannt, la democracia racial - verwirklicht, und die setzte sich halt für ihn aus den drei Ethnien, die Sie genannt haben, zusammen, und das sei alles im Grunde genommen schon prima gelaufen, und es erwarte Brasilien halt dementsprechend eine ganz tolle Zukunft.

von Billerbeck: War offenbar nicht so.

Uhly: Nein, konnte nicht so sein, weil es gab natürlich Rassismus ohne Ende. Brasilien hat 1888 als letztes Land der Erde die Sklaverei abgeschafft. Da war sehr, sehr viel, was man sich erst mal angucken musste und wo man hinschauen musste. Und das ist, durch diese offizielle Haltung - das ist also sehr schnell staatstragend geworden, was Freyre da gesagt hat - ist das erschwert worden. Da ist nicht großartig jetzt irgendwas aufgearbeitet worden.

Das ist dann den Ethnien selbst überlassen geblieben, und so ist es dann auch gekommen: Man kann sagen, eigentlich mit der Bossa Nova entsteht so ein Moment, in dem der Samba und schwarze Einflüsse zum ersten Mal für das Bürgertum akzeptabel werden. Da ist so eine Tür aufgegangen. Und danach kam eigentlich, in den 60er- und in der ersten Hälfte der 70er-Jahre kam die gesamte Kultur der Afrobrasilianer in den Mainstream rein und hat halt sehr viel Veränderung gebracht.

von Billerbeck: Aber lange hat doch genau diese Kultur, also die Kultur der Indios und der Afrobrasilianer, als, in Anführungsstrichen, primitiv gegolten.

"Fälschung des eigenen Stammbaums"
Uhly: Ja, dieses Primitive war eine Vorstellung von, ja, so Sachen wie, kann nicht denken, denkt nur an Sex und so weiter. Man muss sich vorstellen, dass es natürlich überall Vermischungen längst gab, aber sie wurde halt von den weißen Eliten nicht anerkannt und auch totgeschwiegen. Also die Fälschung des eigenen Stammbaums, das war gang und gäbe.

von Billerbeck: Das heißt, man hat sich einen weißen Stammbaum angedichtet, obwohl man ihn gar nicht hatte?

Uhly: Genau. Und wenn man sich nicht sicher war, dann hat man sich eine weißere Frau geholt, damit die Nachkommenschaft noch weißer wurde. Das nannte man dann "branqueamento" oder (…). Das gibt es bis heute, wobei man auch einschränken muss. Ich will jetzt nicht sagen, dass der Rassismus in Brasilien nach wie vor gang und gäbe ist, ich glaube, dass da schon eine Dynamik, die durch die Afrobrasilianer und durch die Indios selber in Gang gebracht wurde, schon vorhanden ist, aber es ist halt ein Kampf.

von Billerbeck: Wie konnte sich denn in so einer Situation, die Sie da gerade beschrieben haben, kulturelles Selbstbewusstsein entwickeln, und welche Rolle hat die Literatur dabei gespielt?

Uhly: Die Literatur war eigentlich - und das ist halt das ganz Tolle für mich als Dichter und Schriftsteller selber –, die Lyrik hat eine Qualität erreicht, die mich, als ich damals nach Brasilien kam, vollkommen überrascht hat. Was mich auch vor allem sehr überrascht hat, war, dass die Qualität der Liedtexte der Qualität der rein geschriebenen Dichtung in nichts nachstand. Also, es befand sich beides auf einem sehr, sehr hohen Niveau, wie ich das von Europa gar nicht kannte.

Das kam tatsächlich durch ein Paar, ein Komponisten-Musiker-Paar, das sehr berühmt geworden ist, durch Lieder wie "Girl from Ipanema", nämlich (…), ein Dichter des zweiten brasilianischen Modernismus, und Tom Jobim, der halt als Komponist und als Musiker sich damals einen Namen gemacht hat, und die haben sich dann zusammengetan in den 50er-Jahren, Anfang der 50er-Jahre, und haben gemeinsam die Bossa Nova erfunden.

"Anfang der 60er-Jahre entstand die konkrete Poesie in São Paulo"
von Billerbeck: Nun ist das aber die Zeit der Diktatur gewesen, 1964, ihrem Geburtsjahr, bis 1984. Das ist doch bestimmt kollidiert zwischen der Militärdiktatur und diesen Dichtern?

Uhly: Ja, ja, das ist natürlich kollidiert, wobei man sagen muss: Es gab also ... Am Anfang der 60er-Jahre gab es eigentlich vor allem die damals bereits schon als bürgerlich verschriene Bossa Nova, dann gab es die linke, die engagierte Literatur, und dann gab es ... Anfang der 60er-Jahre entstand die konkrete Poesie in São Paulo, und es regte sich in Bahia halt zum ersten Mal die afrobrasilianische Kultur. Und während die Linke sich eigentlich an der Rechten aufrieb, haben sich diese beiden anderen Strömungen erst mal relativ ungehemmt entwickeln können, weil sie eben nicht in diesen Antagonismus verfielen.

von Billerbeck: Und nicht politische Forderungen stellten dann.

Uhly: Genau. Sie schufen ein neues Lebensgefühl. Die Concretistas versuchten halt, sprachlich die Moderne, die von Oscar Niemeyer vorformuliert wurde sozusagen, in Worte zu fassen, und die Tropicália war sehr stark, also Leute wie Caetano Veloso, wie Gilberto Gil, die waren natürlich auch offen für angelsächsische Einflüsse, das heißt, für die Beatles, für die Rolling Stones, aber auch für die sogenannte brasilianische, auf Portugiesisch nennt sich das "Música yeah yeah yeah" - das ist eigentlich der brasilianische Schlager mit Roberto Carlos. Und dafür waren die Tropicálistas offen und schufen also ein völlig neues Lebensgefühl. Und das war erst mal attraktiv für die aufkommenden Massenmedien, also vor allem für das Fernsehen, die Globo - heute einer der größten Sender der Welt - ist ja durch die Diktatur groß geworden.

Aber dann merkten sie doch, die Generäle, dass irgendwas da nicht so ganz ihrem Geschmack entsprach, weil diese seltsamen Figuren - das konnte diesen Militärs einfach nicht passen. Und so ist es dann gekommen, als die sogenannten bleiernen Jahre begannen, also als ganz wichtige persönliche Grundrechte einfach entzogen wurden und es richtig gefährlich wurde, das war die Zeit Ende 68 bis 75, da sind dann auch die meisten Menschen verschwunden und gefoltert worden. In dieser Zeit bekamen auch die Tropicálistas Probleme.

von Billerbeck: Man hört Ihnen die Begeisterung an für diese Kultur, für diese Literatur auch. Nun ist das schon eine ganze Weile her. Trotzdem hat man das Gefühl, das hat auch Auswirkungen bis in die Jetzt-Zeit, bis in die brasilianische Literatur heute. Wie?

Uhly: Man muss sagen, nach der Hochzeit der Tropicália ist meines Erachtens ein Tal gekommen und gleichzeitig aber auch eine Diversifizierung, weil nun immer mehr unterschiedliche Stimmen hörbar wurden. Was ich dann noch sehr interessant fand: 2002 kam ein Lied von (…) auf den Markt, das hieß (…), also "mein Stamm bin ich", wo er beschreibt, dass er weder Christ ist noch Jude ist noch Atheist ist noch irgendwas, und der Refrain ist immer (…), also "mein Stamm bin ich", also ein radikaler Individualismus, der jede Zuschreibung von außen ablehnt – das trifft man heute in den großen Städten tatsächlich an, die radikale Vereinzelung des Individuums im Überlebenskampf letztendlich.

von Billerbeck: Steven Uhly war das, Schriftsteller, Übersetzer und Nachdichter von brasilianischer Literatur unter anderem, über ihre Wurzeln und Einflüsse. Ich danke Ihnen!

Uhly: Nichts zu danken!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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