Luzide Erinnerungen

24.05.2012
Dieser Band ist eine Offenbarung. Er wurde erst im Jahr 1976 von Jeanne Schulkind aus dem Nachlass herausgegeben und ist jetzt innerhalb der von Klaus Reicherts edierten "Gesammelten Werke" erschienen. Er gibt einen tiefen Einblick in Virginia Woolfs Leben, aufrichtiger und erbarmungsloser als jede Biografie das vermag.
Das beginnt mit den Eintragungen 1907, der damals 25-jährigen Virginia Stephen und endet mit Aufzeichnungen Virginia Woolfs, nur ein paar Monate vor ihrem Freitod im November 1940. Ihre Hochzeit mit Leonard Woolf, ihre Liebe zu Vita Sackville-West, ihre Ängste, Traumata, Nervenzusammenbrüche, ihre Produktivität und wachsende Berühmtheit, selbst der Zweite Weltkrieg, all das ist darin allerdings nicht oder nur durch Nebenbemerkungen Gegenstand ihrer Betrachtungen.

In diesen Skizzen oder "Reminiszenzen", in den drei hier abgedruckten Vorträgen, die sie im sogenannten "Memoir Club" vor engsten Freunden gehalten hat, wird die komplexe und komplizierte Familienstruktur der Stephens analysiert, die sich aus dem egomanischen Vater Leslie Stephen, einer über jeden Tadel erhabenen, schönen Mutter, den Halbgeschwistern aus der ersten Ehe der Mutter und den Geschwister zusammensetzt.

Es entsteht das Porträt einer Kindheit und Jugend in Londoner Wohnungen und während der großen Ferien in St. Yves. Virginia Woolf erklärt aus der Perspektive des scheuen, vor Intellekt und Wissensbereitschaft vibrierenden Mädchens das viktorianische Gesellschaftssystem. Sie beschreibt es, wie es ihre Art ist: als einen Zustand in der Schwebe. Vor dem Hintergrund der sich ankündigenden Auflösung nennt sie die Gesellschaft kurzerhand eine "erbarmungslose Maschine".

Wir lesen in dem aufregenden Band von den Bewusstseinsschüben des Kindes Virginia, das sich über die Folgen von Gewalt als Gefühl "hoffnungsloser Traurigkeit" Gedanken macht. Wir erfahren von den heftigen Schocks, als ihr plötzlich die Unterscheidung zwischen Verzweiflung und Befriedigung deutlich wird. Und dann kommt die Katastrophe für die 13-Jährige: Die geliebte Mutter stirbt. Doch erst beim Tod des Vaters wird sie beginnen, Stimmen zu hören, die Stimme der Mutter verstummt erst, als Virginia Woolf ihr mit "To the Lighthouse" ("Zum Leuchtturm") ein Denkmal gesetzt hat.

"Die Augenblicke des Daseins" zeigen auch, wie die gereifte Autorin ihre frühen Skizzen umformt, wie sie es vermag, den Wegen des Bewusstsein Sprachbilder zu geben und wie sie sich hütet, die Leiden zu beweinen, die aus den beschriebenen Empfindungen und Empfindlichkeiten entstanden sind. Sie benutzt ihre seelischen Erfahrungen zur Erforschung der Seins-Zustände des Menschen und nutzt diese Recherche für ihr gesamtes Werk. So ist es ihr möglich, in liebevollen, manchmal komischen, immer klaren Darstellungen ihre eigene Entwicklung innerhalb einer britischen Intellektuellenfamilie zu beschreiben, mit vielen Blicken auf den Alltag ihrer Zeit. Der Band ist ein luzider Bericht über das Heranwachsen einer Persönlichkeit, der die Literatur des 20. Jahrhunderts allergrößte Einsichten verdankt.

Besprochen von Verena Auffermann

Virginia Woolf: Augenblicke des Daseins. Autobiografische Skizzen. Gesammelte Werke
Herausgegeben von Klaus Reichert
Aus dem Englischen von Brigitte Walitzek
S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main, 2012
251 Seiten, 26,00 Euro
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