Lustwandeln mit Blick ins Umland

Von Oliver Heilwagen · 24.11.2011
Nach fünfjähriger Umbau-Pause ist die Neue Galerie in Kassel wieder für das Publikum geöffnet. Sie ist mehr als nur Kassels Museum für Kunst des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, denn alle fünf Jahre beherbergt die Galerie Teile der Documenta, der weltgrößten Ausstellung für zeitgenössische Kunst.
Nach Berlin, Dresden und München verfügt Kassel über den viertgrößten Museums-Verbund in Deutschland: 2006 wurden die Baudenkmäler und Parkanlagen der nordhessischen Stadt zur "Museumslandschaft Hessen Kassel" zusammengefasst. Davon merkte man bislang wenig. Da die Neue Galerie vor fünf und das Landesmuseum vor drei Jahren wegen Renovierung geschlossen wurden, war von den drei wichtigsten Museen nur Schloss Wilhelmshöhe mit der Gemäldegalerie Alte Meister zugänglich.

Nun ist die Neue Galerie für 23 Millionen Euro fertig renoviert. 1877 nach dem Vorbild der Alten Pinakothek in München errichtet, brannte der zweigeschossige Riegelbau im Zweiten Weltkrieg aus. Erst 1976 war das Museum wiederhergestellt: mit holzverschalten Wänden und Teppichboden im damaligen Zeitgeschmack. Diese muffig dunkle Gestaltung hat das Büro Staab Architekten radikal entfernt. Der Umbau hat die Raumaufteilung stark verändert, erläutert Architekt Volker Staab:

"Die größten baulichen Veränderungen beziehen sich vor allem auf die innere Erschließung des Gebäudes, indem wir die Treppe aus den 60er-Jahren herausgenommen und eben nach vorne geschoben haben. Damit haben wir sozusagen zwei vertikale Eingriffe in dieses historische Gebäude vorgenommen. Wir haben versucht, einerseits über die gemeinsame Oberfläche in diesem hellen Grau bis Weiß das ganze Haus zusammenzuziehen, ihm Licht zu geben. Andererseits wollen wir mit einer neuen Oberlicht-Konstruktion auch das Tageslicht verstärken und im Bereich der Loggia über offene Verglasungen diese Aussicht auch tatsächlich für den Besucher erlebbar machen."

Seiner Postadresse "Schöne Aussicht 1" macht das Museum jetzt alle Ehre: Auf der Südseite beider Etagen laden leere Galerien mit freiem Blick ins Umland zum Lustwandeln ein. Die Nutzfläche wurde auf 3000 Quadratmeter erweitert und erlaubt künftig auch Sonder-Ausstellungen im Untergeschoss. Weiß getünchte Säle mit hellgrauem Beton-Boden lassen die Farben der Kunstwerke leuchten. Die gezeigte Auswahl aus der Sammlung hat sich ebenso geändert. Malerei des 18. Jahrhunderts hat Museumsleiterin Marianne Heinz ins Schloss Wilhelmshöhe ausgelagert:

"Der Einstieg geschieht jetzt mit der Malerei des 19. Jahrhunderts, mit der Landschaftsmalerei. Die neue Architektur ermöglicht drei Auftakträume für die drei Standbeine des Hauses - das 19. Jahrhundert, die Documenta und die zeitgenössische Malerei. Wenn der Besucher aus dem Foyer in die Sammlung geht und dem Rundgang folgt, kommt er in diese Auftakträume und bekommt, salopp gesagt, eine Art Vorgeschmack auf das, was er dann im Haus wieder findet."

Allerdings könnten die Auftakträume den Besucher auch verwirren: Außer Durchgängen verbindet sie nichts miteinander. Zudem fehlen Wandtexte - stattdessen gibt es Gratis-Hefte mit Werk-Beschreibungen. Man muss also fleißig blättern, um zu verstehen, warum dahinter drei Künstlerräume für Wilhelm Lehmbruck, Joseph Beuys und Ulrike Grossarth folgen. Das widerspricht nicht nur der ansonsten chronologischen Hängung. Ein Raum, den Beuys persönlich 1976 eingerichtet hat, blieb auch unverändert. Er wirkt nun wie eine Gedenkstätte für den Look der 70er-Jahre, der doch im übrigen Haus getilgt wurde.

Solche Details stören Bernd Küster nicht. Der Direktor der Museumslandschaft sieht die Neue Galerie als Station in der Kasseler Kulturmeile, die 2016 bis zum Weinberg reichen soll. Auf diesem Hang am Rand der Innenstadt sind zwei Neubauten geplant: das Tapeten- und das Brüder-Grimm-Museum. Der Parcours würde dann vom Fridericianum, ebenfalls ein Documenta-Standort, bis zum Museum für Sepulkralkultur verlaufen, das sich mit dem Tod beschäftigt, so Bernd Küster:

"Die Dinge können miteinander verknüpft werden, sodass man vom Fridericianum - also im Herzen der Stadt - bequem oberhalb des Parks Karlsaue zur Neuen Galerie gehen kann, dann zum Tapetenmuseum und weiter zur Grimm-Welt, die dort entstehen wird. Der Weg endet am Sepulkralmuseum. Das ist alles fußläufig an einem Nachmittag zu durchmessen; damit kann Kassel in Zukunft werben. Und wir sind mit der Neuen Galerie jetzt in dieser neuen Qualität schon da."

Ein kühner Plan - ob er angesichts langer Kasseler Bauzeiten fristgerecht umgesetzt wird, bleibt abzuwarten. Wer die Neue Galerie im neuen Glanz erleben will, muss sich dagegen beeilen: In vier Monaten wird sie wieder halb ausgeräumt - für die nächste Documenta.

Die Neue Galerie ist täglich außer montags von 10 bis 17 Uhr geöffnet.
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