Lukas Bärfuss: "Hagard"

Eine Geschichte des tragischen Zerfalls

Buchcover "Hagard" von Lukas Bärfuss. Im Hintergrund eine Ansicht von Zürich in der Abenddämmerung.
Buchcover "Hagard" von Lukas Bärfuss. Im Hintergrund eine Ansicht von Zürich in der Abenddämmerung. © Wallstein Verlag / dpa / Friso Gentsch
Von Jörg Magenau · 20.02.2017
Auto, Geld und Überblick: In "Hagard" verliert ein Mann, der auf die 50 zugeht, alles. Der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss erzählt in seinem neuen Roman vom Verschwinden in einer Welt, die immer unübersichtlicher wird – und ist damit im Rennen um den Preis der Leipziger Buchmesse.
Auto, Geld und Überblick: In "Hagard" verliert ein Mann, der auf die 50 zugeht, alles. Der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss erzählt in seinem neuen Roman vom Verschwinden in einer Welt, die immer unübersichtlicher wird – und ist damit im Rennen um den Preis der Leipziger Buchmesse.
Das deutsche Jagd-Lexikon bezeichnet als Hagard einen Jagdvogel, der zur Zeit der Gefangennahme das Alterskleid trägt, und verweist zugleich auf die dialektale Herkunft des Wortes, das scheu, wild, störrisch, verstört und, aus dem Französischen kommend, auch abgezehrt, besorgt bedeuten kann. Mit diesem Wortfeld ist das Geschehen des neuen Romans von Lukas Bärfuss abgesteckt.
Da meldet sich zunächst ein Ich-Erzähler zu Wort, der eine Geschichte verspricht, die ihm nahe geht, die er in allen Einzelheiten kennt, als wäre er dabei gewesen und die ihm doch unverständlich und geheimnisvoll bleibt. Er berichtet von seinem Freund Philip, der auf die 50 zugeht und mit Grundstücken und Immobilien offenbar viel Geld verdient. Ob es Langeweile war, was ihn antrieb, einer Frau auf der Straße zu folgen, ist schwer zu sagen.

Besessener Beobachter einer Unbekannten

Was zunächst nur ein kleiner Impuls war, wächst sich zur fixen Idee und zur stalkerhaften Observation einer Unbekannten aus. Was ist denn Liebe? Welche Projektionen verleiten uns dazu, einem anderen Menschen zu folgen? Schwer zu sagen auch, was den Ich-Erzähler dazu bringt, im Tonfall einer Beichte von den eigenen Obsessionen und der eigenen Verwicklung in Philips tragische Geschichte zu sprechen. Atemlos folgt er dem fortschreitenden Zerfall, selbst eine Art Voyeur seiner Figur, eine Haltung, in die auch wir Leser hineingezwungen werden.
Geradezu beschwörend legt dieser Ich-Erzähler anfangs noch Ort und Zeit der Handlung fest: Wir befinden uns in einer Schweizer Stadt, Zürich womöglich, in unmittelbarer Gegenwart. Die russische Invasion auf der Krim hat gerade begonnen, die Weltlage ist unübersichtlich und würde von diesem Philip vielleicht mehr erfordern, als bloß einer Frau hinterherzulaufen. Er folgt ihr in einen Vorort, verbringt eine Nacht im Auto vor ihrem Haus, verliert bald jedoch alles: Auto, Geld, einen Schuh und mit der Ladung des Handys auch den Überblick.
Es ist die Geschichte des Erlöschens einer modernen, technikgestützten Person, in der nicht zufällig immer wieder von der spurlos im Pazifik verschwundenen MH 370 der Malaysian Airlines die Rede ist. Oder handelt es sich um einen finsteren surrealen Albtraum, in dem man ausweglos immer tiefer in eine unrettbare Situation hineingesaugt wird?

Eine Welt ohne Zusammenthalt

Bärfuss führt vor, wie dünn der Boden ist, auf dem wir uns bewegen und wie leicht alle Bindungen zu kappen sind. Ein einziger Schritt, eine Sekunde, eine kleine Entscheidung – und nichts ist mehr so wie zuvor. Auch Philips Blick auf die Gesellschaft, auf die anderen Menschen und ihre ameisenhafte Geschäftigkeit verändert sich in dem Moment, wo er selbst herausfällt. Es sind Zufälle, die ihn ins Verhängnis führen, die Verkettung von Ereignissen, die er bald nicht mehr beeinflussen kann. Dabei ist der Schweizer Autor bei aller Sachlichkeit seiner Darstellung ein Moralist, weil der Untergang, von dem er erzählt, zwar von einer einzelnen Person handelt, aber doch die ganze Welt meint, in der es eben keine festen Übereinkünfte und keinen Zusammenhalt mehr gibt.
Wir leben, so heißt es im Text, in einer Schwellenzeit, "deren Ende nur eines bedeuten konnte: den Untergang der Welt, so wie wir sie kannten." Bärfuss spürte diesen Phänomenen in all seinen Büchern nach, ob er vom Völkermord in Ruanda erzählte oder vom Suizid seines Bruders. Das ist deshalb nicht nur düster, weil es ihm dabei immer auch um das prekäre Glück und die Rätselhaftigkeit der Existenz geht. "Hagard" ist eher eine Novelle als ein Roman, eine kleine, brillante Geschichte mit einer großen Wirkung.

Lukas Bärfuss: Hagard
Roman
Wallstein Verlag, Göttingen 2017
174 Seiten, 19,90 Euro

Der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss.
Der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss© Frederic Meyer
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