Luftbrücke nach Tel Aviv

Von Florian Elsemüller · 01.11.2013
1984, im äthiopischen Bürgerkrieg, begann Israels Geheimdienst in spektakulären Aktionen Juden aus Äthiopien nach Israel zu holen, um sie vor der grassierenden Gewalt zu schützen. Im Sommer erklärte die Regierung in Tel Aviv die sogenannte Alijah für beendet - obwohl Hunderte, vielleicht Tausende in einem Camp in Äthiopien bleiben mussten.
In Mevasseret, einer Stadt vor den Toren Jerusalems, liegt Israels größtes Aufnahmelager für äthiopische Juden. Rivka Wandah richtet die Zimmer und begrüßt die Neuankömmlinge.

"Schalom. Willkommen in Israel. Das ist euer Haus."

Zwei Zimmer pro Familie. Die Kochnische ist im Wohnzimmer. Das Bett für die Kinder auch. Für viele ist der Flug hierher, wie eine Reise in eine andere Welt. Ein Kulturschock: Die meisten Äthiopier kommen aus Dörfern in der Nähe von Gondar im Norden des Landes. Viele lebten als Kleinbauern und haben noch keine Erfahrung, wie man Strom nutzt. Rivka öffnet den Kühlschrank.

"Was habt ihr im Kühlschrank: Eier, Milch, Brot, ein bisschen Hühnchen, Schnitzel, und Wasser haben wir auch drin. Hier ist das Fenster. So geht es auf und zu. Und hier ist Essen, wir haben Reis, Nudeln, Linsen, Zucker, Salz und Öl."

Rivka selbst ist Äthiopierin. 1991 ist sie eingewandert. Die Geschichte der äthiopischen Einwanderung beginnt 1984 mit der geheimen Operation "Moses". Der Mossad hatte die Juden über die Grenze in den Sudan gebracht, um sie von dort nach Israel zu holen. Einstige Mossad-Agenten erzählen heute von einem Touristen-Dorf, das sie eigens zur Tarnung im Sudan gebaut hatten. Tagsüber arbeiteten die Agenten im Dorf. Nachts transportierten sie äthiopische Juden auf Booten.

Dann 1991, die Operation "Salomon": 14.000 Falaschen werden nach Tel Aviv ausgeflogen – innerhalb von eineinhalb Tagen. Eine Luftbrücke nie da gewesenen Ausmaßes - bis heute ist dieser Rekord ungebrochen.

Rivka war 24 Jahre alt und schwanger. Im äthiopischen Bürgerkrieg war sie in die Hauptstadt geflohen. Aber auch Addis Abeba war umkämpft, die Rebellen rückten vor, Diktator Mengistu ging ins Exil. Ein Machtvakuum in Addis – und Lebensgefahr für die Juden. Die israelische Regierung handelte und schickte 35 Flugzeuge nach Äthiopien. Aufnahmen aus dem Archiv der israelischen Armee zeigen unglaubliche Szenen. Die Luftwaffe legte ihre Transportmaschinen nur mit Matratzen aus, so viele Menschen wie möglich mussten an Bord der Flugzeuge.

Rivka: "Das Flugzeug vor uns hatte keine Sitze, hatte gar nichts, dafür viele Menschen. Wir hatten Glück und Sitzplätze. Ich ging rein, und ich sah das Flugzeug, und ich werde es mein Leben lang nicht vergessen: Es sah aus wie auf dem Fußballfeld."

Über 1000 Menschen sollen sich in einen Jumbo Jet gezwängt haben – doppelt so viele wie Boeing je geplant hatte. Die äthiopische Regierung war informiert, sonst herrschte höchste Geheimhaltungsstufe.

Rivka: "Als wir die Lichter durch die Fenster erkennen konnte, hat uns jemand gesagt: 'Wir werden gleich in Israel landen. Singt und tanzt und dankt Gott.' Erst da wussten wir, dass wir auf dem Weg nach Israel waren. Niemand hat es uns vorher gesagt."

Dann die Landung in Tel Aviv.

"Gesegnet sei der Herr. Gut gemacht. Alle Ehre Euch."

Die ersten Worte eines Einwanderers. Die Aktion war eine nationale Leistung. Ein Volk stand zusammen. Mit diplomatischem Geschick, mit Mut und einer präziser Planung wurden 14.000 Juden aus Afrika gerettet.

Pilot: "Unglaublich, ich habe keine Worte, das zu beschreiben,"

sagte damals ein Pilot auf dem Rollfeld in Tel Aviv. Sein Kollege ist am Ende mit seiner Kraft.

Pilot: "Ich dachte, wie fühlen uns danach wie Helden, aber ich bin einfach nur müde."

Nun ist auch die dritte Operation, die Operation "Taubenflügel" zu Ende gegangen. Diejenigen, die jetzt eingewandert sind, sind Falasch Mura. Ihre Vorfahren haben sich im 19. und 20. Jahrhundert unter Zwang zum Christentum bekannt. Während der Operationen "Moses" und "Salomon" waren die Falasch Mura in Israel noch nicht als Juden anerkannt und mit Gewalt daran gehindert worden, die Flugzeuge zu besteigen. Jetzt sind auch sie in Israel. Grund für eine große Feier am Ben-Gurion-Flughafen in Tel Aviv.

Auch Eden ist zum Flughafen gekommen. Sie ist eine junge Frau mit einem breiten Lachen auf ihrem Gesicht. Sie wartet auf ihren Cousin.

Eden: "14 Jahre lang habe ich ihn nicht gesehen. Aber ich werde ihn erkennen. Das geht mir gerade richtig nahe."

Hunderte Äthiopier sind gekommen, um ihre Verwandten zu begrüßen. Alle sind in Feierlaune, es herrscht eine großartige Stimmung auf dem Flughafen Ben-Gurion in Tel Aviv. Dort, im alten Terminal 1 haben sie eine Gepäckausgabehalle umfunktioniert. Zwischen den Förderbändern stehen Plastikstühle. Eine Bühne und eine riesige Leinwand sind aufgebaut. Darauf zu sehen ist die Live-Übertragung vom Rollfeld. In zwei Boeing 787 der Ethiopian Airlines landen 450 Äthiopier. Sie laufen die Gangway herunter. Manche knien sich hin und küssen den Boden.

Auch Natan Sharansky, der Vorsitzende der Jewish Agency, war im Flugzeug. Am Morgen war er noch in Addis Abeba bei der Zeremonie auf dem Gelände der israelischen Botschaft.

Sharansky: "Es hat mich sehr berührt. Die Botschafterin in Äthiopien und die Mitarbeiter in der Botschaft wanderten ja selbst als Kinder von Äthiopien nach Israel aus. Und die Menschen, die jetzt einwandern, sehen in uns ihre Zukunft. Und wir schauen sie an, und sehen unsere Vergangenheit."

Die Einwanderer laufen durch ein Tor in die Gepäckausgabehalle. Dann Chaos. Die Menschen laufen kreuz und quer durch den Raum, sie umarmen einander und küssen sich. Eden und ihre Mutter stehen auf Zehenspitzen. Endlich sieht sie einen schlanken, großen Mann in Jeansjacke. Edens Mutter geht auf die Knie und küsst den Boden um seine Füße.

90.000 äthiopische Juden leben nun in Israel. Genug, sagt die israelische Regierung. Sie hat die organisierte äthiopische Einwanderung nach 30 Jahren für beendet erklärt: Alle Juden seien zu Hause.

Tamasgang ist anderer Meinung. Er wohnt auch im Aufnahmelager in Mewasseret mit seiner Frau und zwei Kindern. Tamasgang war Kantor in seiner Gemeinde in Äthiopien. Vor acht Monaten ist er eingewandert, aus religiösen Überzeugungen.

Tamasgang: "Ich habe Israel vermisst. Jeden Tag habe ich an Jerusalem gedacht, jeden Tag habe ich an das Gelobte Land gedacht. Jerusalem, die wunderschöne Stadt, sie wird in der Thora beschrieben."

Eigentlich müsste Tamasgang glücklich sein. Die Eltern seiner Frau sind nun mit dem letzten Flugzeug angekommen. Er war zur Feier eingeladen.

"Als ich mich angemeldet habe, habe ich zuerst gedacht: Ja, ich begrüße meine Familie. Aber als ich verstanden habe, dass es eine Party für das Ende der Alijah ist, konnte ich nicht hingehen. Das ist keine Feier für mich. Ich habe abgesagt. Das ist kein Fest für mich."

Statt zur Party ist er demonstrieren gegangen, vor das Haus von Ministerpräsident Netanyahu. Tamasgangs Mutter durfte nicht nach Israel kommen. Jude ist, wessen Mutter Jüdin ist. So gesehen hat es Tamasgang seiner Mutter zu verdanken, dass er einwandern durfte. Israelische Zeitungen berichten, hunderte, vielleicht tausende Äthiopier mussten in einem Camp in Äthiopien zurückbleiben.

Tamasgang: "Die Menschen, die in Äthiopien geblieben sind, singen: 'Wenn ich dich je vergesse, Jerusalem, dann soll mir die rechte Hand verdorren.' Das singen sie immer noch, und deshalb werden auch sie irgendwann nach Israel kommen."

Eine Bar für Äthiopier im Zentrum der Neustadt von Jerusalem. Weiße Plastikstühle stehen in dem schwarzen Raum. Auf ihnen sitzen ausschließlich Männer. Das einzige Thema an diesem Abend ist das Ende der Alijah. Viele Äthiopier trifft das ins Mark. Tesfy, der Barkeeper, denkt an die, die das Innenministerium nicht hat einreisen lassen, die sich aber darauf vorbereitet hatten. Tausende sind aus den Dörfern in die Stadt nach Gondar gezogen.

Bar-Keeper: "Sie haben ihre Felder und Häuser zurückgelassen. Und dann sagt man ihnen: Die Alijah ist vorbei. Wenn sie die Einwanderung aus allen Ländern stoppen, okay, aber sie können nicht die äthiopische Einwanderung beenden und im Rest der Welt weitermachen. Man sollte keinen Unterschied machen wegen der Hautfarbe oder weil jemand ausgebildet ist und jemand anders nicht.""

Viele äthiopische Juden fühlen sich in Israel heute diskriminiert. Etliche leben in ärmlichen Verhältnissen. Im Alltag fallen sie nur als Putzkräfte auf, in Büros und auf öffentlichen Toiletten. Der Zugang zu anderen Berufen bleibt ihnen häufig verwehrt.

Auf die israelische Staatsbürgerschaft haben aber alle Juden einen Rechtsanspruch.

Auch Sofa Landver, die Alijah-Ministerin, hat die Feier zum Ende der Umsiedlungskampagne in Tel Aviv besucht. Viele Israelis sind unzufrieden, weil sie nicht glauben, dass alle Juden, die Äthiopien verlassen wollten, auch einwandern durften.

Landver: "Wir setzen nun ein spezielles Komitee ein, das irreguläre Fälle beurteilt. Wir müssen jeden Antrag überprüfen. Wir müssen jede Anfrage einzeln bearbeiten. Es wird auch weiterhin einzelne Einwanderer geben – aber es werden individuelle Einwanderungen sein."

Anträge, Formulare und Belege könnten ungewöhnliche Einzelfälle auch weiterhin einreichen, ganz normal, so wie das überall auf der Welt läuft, sagt die Regierung. Aber das können sie nicht mehr in ihrer Nähe, in Gondar, da werden die Büros geschlossen, sondern nur in der Hauptstadt. Das ist viel verlangt von einem Kleinbauern aus einem Dorf im Norden von Äthiopien. So befürchten viele Äthiopier in Israel, dass das Recht auf Rückkehr für ihre Verwandten leerlaufen wird.