Lügen in Zeiten des Holocaust

Von Michael Opitz · 25.09.2012
Jurek Beckers Muttersprache war Polnisch, aber die Sprache seiner Mutter hatte er vergessen. Deutsch, die Sprache, in der er Bücher wie "Jakob der Lügner", "Bronsteins Kinder" und "Der Boxer" schrieb, musste er wie eine Fremdsprache lernen. Es war die Sprache der Mörder seiner Mutter.
Auch an die Zeit im Getto und im Lager konnte sich Jurek Becker nicht erinnern. In dem Aufsatz "Die unsichtbare Stadt" beklagt er seine Erinnerungslücken. Er hatte stets das Gefühl, als würde er ständig eine Kiste mit sich herumschleppen, ohne deren Inhalt zu kennen. "Ich möchte zu ihnen hinabsteigen und finde den Weg nicht" - diesen Schluss von Beckers Essay verwendet W. G. Sebald für einen Aufsatz und moniert darin "die emotionale Absenz des Autors" Jurek Becker.

Der Erzähler käme in seinem literarischen Werk nicht vor, so lautet einer der Vorwürfe, weshalb ein Gutteil der Romantexte wie "schlechte Erfindungen des Erzählers wirken". Doch die scheinbare Abwesenheit des Autors ist eine bewusste Entscheidung Beckers, der sich der Schoah nur über das Vergessen nähern kann. Seine Texte sind Erfindungen. Einer der bekanntesten Erfinder, ein "Lügner", ist Jakob Heym aus Beckers Roman "Jakob der Lügner". Jakob lügt, denn er besitzt gar kein Radio. Aber seine "Lügen" verbreiten im Getto Hoffnung.

Jurek Becker hat nie behauptet, im Besitz der Wahrheit zu sein – schreibend hat er vielmehr versucht, sich ihr zu nähern.

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Das Leben als langwierige politische Ernüchterung
Jurek Becker: "Mein Vater, die Deutschen und ich", herausgegeben von Christine Becker, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 320 Seiten
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