Lücken in der Gesundheitsversorgung

Frank Dörner im Gespräch mit Marcus Pindur · 05.12.2011
Seit dem Mord an fünf Mitarbeitern von "Ärzte ohne Grenzen" im Jahr 2004 sei es in Afghanistan nicht sicherer geworden, beklagt Geschäftsführer Frank Dörner. Auch die gesundheitliche Versorgung müsse weiter verbessert werden. Die Mütter- und Kindersterblichkeit sei extrem hoch.
Marcus Pindur: Eine gute nachbarschaftliche Lösung für Afghanistan werde man nur finden, wenn die Nachbarländer mitmachten. So sagte es Außenminister Westerwelle gestern im Deutschlandfunk vor Beginn der Afghanistan-Konferenz in Bonn. Wenn das so ist, dann ist der Erfolg der Konferenz schon schwer gefährdet. Pakistan verweigert sich ja der Teilnahme, der Iran ist zwar mit seinem Außenminister vertreten, aber ansonsten keine große Hilfe. Überhaupt, es ist zwar vieles besser als vor zehn Jahren in Afghanistan, es bleibt aber auch noch einiges zu tun. Darüber wollen wir mit Frank Dörner reden, er ist Geschäftsführer der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen. Guten Morgen, Herr Dörner!

Frank Dörner: Ja, guten Morgen, Herr Pindur!

Pindur: Ärzte ohne Grenzen hat in der Provinz Kundus, also da, wo die deutschen Soldaten auch sind, gerade vor Kurzem ein chirurgisches Hospital eröffnet. Sie waren dort. Wie ist es dort konkret um die medizinische Versorgung der Bevölkerung bestellt?

Dörner: Ja, wir sehen nach wie vor, dass im medizinischen Bereich viel zu tun ist, Sie deuteten das eben schon an. Vor allen Dingen hat unsere Klinik dort die Aufgabe, sich speziell um Kriegsverletzte zu kümmern und um durch Autounfälle verursachte Traumata. Also, eine chirurgische Schwerpunktklinik, die ihresgleichen sucht in der gesamten Region. In der nördlichen Provinz gibt es keine solche Klinik, die wirklich auf Trauma-Opfer spezialisiert ist.

Pindur: Wir müssen jetzt auch mal ein paar Jahre kurz zurückblicken: Im Jahr 2004 hat Ihre Organisation fünf Mitarbeiter durch brutale Morde verloren. Sie haben daraufhin das Land verlassen, sind aber 2009 wiedergekommen. Hat sich die Sicherheitslage also für Sie verbessert?

Dörner: Das kann man so nicht sagen. Grundsätzlich ist es ein Riesentrauma für Ärzte ohne Grenzen, für die Organisation, für viele Mitarbeiter natürlich gewesen, dass unsere Kollegen dort gezielt ermordet wurden. Wir wissen nach wie vor nicht, was genau die Hintergründe gewesen sind, und das hat einfach dazu geführt, dass wir einen Prozess des Nachdenkens natürlich hatten, dass wir geguckt haben, wie können wir unsere Sicherheitsnetze, wie können wir unser Sicherheitsverständnis noch weiter vertiefen, verbessern. Haben aber in 2009 gesehen, dass die humanitären und medizinischen Notwendigkeiten in diesem Land so massiv sind, dass wir uns entschlossen haben, doch zurückzukehren.

Pindur: Wie sehen Sie denn dann als Hilfsorganisation der Übergabe der Sicherheit an die afghanischen Kräfte entgegen?

Dörner: Nun, man kann im Moment schon sagen, dass es, wenn man sich die offiziell verfügbaren Zahlen ansieht, dass es mehr Kriegsverletzte, Kriegstote gibt als in den letzten Jahren, die Zahlen also eigentlich eher steigen gerade im zivilen Bereich. Wenn man sich das vor Augen hält, nun, zeichnet sich ein Bild, was eher darauf deutet, dass es nicht besser wird in der nächsten Zeit. Und wir denken, dass wir unsere Aktivitäten eher ausweiten müssen als weniger tun müssen. Und wie gesagt, vor allen Dingen auch im Hinblick darauf, dass wir den Zugang zu den wenig existierenden medizinischen Versorgungseinrichtungen wirklich auch sicherstellen wollen.

Pindur: Ärzte ohne Grenzen will Anfang kommenden Jahres eine Klinik mit dem Schwerpunkt Frauengesundheit eröffnen. Was können Sie zur Lage der Frauen in Afghanistan berichten?

Dörner: Nun, wenn man das auf dem medizinischen Bereich anguckt, sieht man nach wie vor, dass die Frauenmortalität, die Müttersterblichkeit mit 1.400 per 100.000 Lebendgeburten extrem hoch ist. Und das deutet darauf hin, dass dort noch sehr, sehr viel zu tun ist und deswegen natürlich auch Ärzte ohne Grenzen einen Schwerpunkt auf die Versorgung von werdenden Müttern, von Müttern an sich und natürlich auch von Kleinkindern setzt. Und wir eröffnen diese Klinik im Frühjahr jetzt des kommenden Jahres in Chost.

Pindur: Mit welchen konkreten Maßnahmen kann man derzeit denn am meisten noch für das afghanische Gesundheitssystem tun? Sie haben gerade die Geburtensterblichkeit genannt, was gibt es da noch für Bereiche?

Dörner: Es ging vor allen Dingen um die Müttersterblichkeit, aber die Versorgung von Kindern zum Beispiel, die Kindersterblichkeit unter fünf, Sterblichkeit, ist auch sehr hoch. Also, in diesen Bereichen muss sehr viel getan werden, auch in der Vorsorge. Ja, es ist, denke ich, in vielen Bereichen einfach auch noch sehr schwierig zu sagen, wie die Gesamtversorgungslage aussieht. Die Zahlen sind sehr unzuverlässig und vieles, was auf dem Papier existiert, muss qualitativ nicht gut sein und auch wirklich nicht unbedingt der vor allen Dingen ländlichen Bevölkerung zur Verfügung stehen. Das heißt, es muss dort eine vernünftige Evaluierung noch einmal geben und wirklich auch gesehen werden, wo die größten Lücken noch bestehen im Gesundheitsversorgungsbereich.

Pindur: Ärzte ohne Grenzen ist in der Notversorgung tätig. Können Sie uns trotzdem darüber etwas sagen, wie es um die Ausbildung von medizinischem Personal und Ärzten in Afghanistan bestellt ist?

Dörner: Wir können das natürlich nur für unseren Bereich sehen, aber dort, wo wir arbeiten – und das sind ja mittlerweile dann drei Provinzen und drei große Krankenhäuser, in denen wir tätig sind –, sehen wir nach wie vor, dass es sehr viel an Aufholbedarf einfach gibt. Unsere medizinischen Kollegen sind zum Teil sehr gut ausgebildet, was man sieht immer wieder, ist aber, dass mehr Know-how vor allen Dingen bei dem Pflegepersonal fehlt. Es gibt Schwierigkeiten, Engpässe bei der Materialversorgung, also im Gesamtversorgungsbereich, auch in der konzeptuellen Abwicklung zum Beispiel und Organisation von Massenverletzten gibt es einen enormen Nachholbedarf und Ausbildungsbedarf.

Pindur: Das geht jetzt ein bisschen über das, was Sie machen, hinaus oder ist ein anderer Bereich, aber wäre es zum Beispiel denkbar, dass man auch medizinisches Fachpersonal für Ausbildung zum Beispiel nach Deutschland holt und dann wieder zurückbringt nach Afghanistan?

Dörner: Natürlich sind solche Aktivitäten immer möglich. Ich meine, viele der afghanischen Kolleginnen und Kollegen haben ja auch im Ausland studiert und sind halt zurückgekehrt. Auf der anderen Seite muss man natürlich auch sagen, dass gerade im ländlichen Bereich da enorm viele Schwierigkeiten bestehen, das Personal, vor allen Dingen Ärzte dort auch längerfristig zu binden und dort auch arbeiten zu lassen.

Pindur: Herr Dörner, vielen Dank für das Gespräch!

Dörner: Ja, ich danke Ihnen auch!

Pindur: Frank Dörner, Geschäftsführer der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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