Lucia Berlin: "Was ich sonst noch verpasst habe"

Zwischen Waschsalon und Entzugsklinik

Eine Mitarbeiterin des Theaters in Meißen (Sachsen) reinigt mit einem Staubsauger die Sitze im Zuschauersaal des Theaters.
Eine Reinigungskraft bei der Arbeit © picture alliance / Arno Burgi
Von Manuela Reichart · 26.02.2016
Unterprivilegierte Frauen und ihr Kampf um ein besseres Leben - darüber schrieb die 2004 verstorbene US-Autorin Lucia Berlin. Unsentimental, dramatisch und herzzerreißend. Eine echte literarische Wiederentdeckung.
Sie galt als das "bestgehütete literarische Geheimnis der USA". Die Wiederentdeckung einer ungewöhnlichen Autorin, die in ihren Geschichten das raue Leben festhielt.
Im empathischen und kenntnisreichen Vorwort zu diesem Band mit 30 Erzählungen heißt es "Schreiben bedeutet für Lucia Berlin auch, einen Ort zu finden an dem sie bleiben kann. Aus dem Gefühl heraus, nicht geerdet zu sein, immer getrieben, früh verjagt aus der Sicherheit eines Elternhauses, findet sie Geborgenheit in einem Satz." Überschrieben hat Antje Ravic Strubel ihren Einführungstext treffend "Das Schreiben als Fallschirm". Den brauchte die 1936 geborenen, 2004 gestorbenen Autorin zweifellos: geboren in Alaska, aufgewachsen in Chile, als Kind an Skoliose erkrankt, als Erwachsene alkoholabhängig, drei Ehen, vier Söhne, die sie allein aufzog. Sie hat als Putzfrau, Aushilfslehrerin und Krankenpflegerin gearbeitet.
Von den verschiedenen Stationen dieses unsteten Lebens, von ihren Jobs und Erfahrungen sind auch ihre ungewöhnlichen Geschichten geprägt, die oft in Arztpraxen und Krankenhäusern spielen, auf Entzugsstationen und in Waschsalons, vom Leben alleinerziehender Frauen und hilfloser junger Emigrantinnen erzählen, von Abtreibungskliniken, aber auch – wie in der Geschichte "Gut und schlecht" – von einem jungen Schulmädchen aus begüterter Familie, das aus Gedankenlosigkeit eine kommunistische Lehrerin um ihre Existenz bringt.

Ein rührendes und verblüffendes Ende

An einer Stelle heißt es "Ich war schon immer eine gute Zuhörerin." Und diese Eigenschaft war denn wohl auch die Grundlage dieses literarischen Werks. Lucia Berlin fängt den Ton der Menschen ein, zieht uns direkt hinein in Schicksale und Geschichten. Die sind immer unsentimental, dramatisch, komisch, herzzerreißend. Da stellt eine Arzthelferin eine Kollegin ein, die den Job nicht des Geldes, sondern häuslicher Langeweile wegen macht. Eine exotische Situation für die, die arbeiten muss, um zu leben. Und dann hilft sie der braven Hausfrau auch noch, eine ersehnte Affäre zu verwirklichen. Der Ehemann glaubt, seine Frau sei so eng und andauernd mit der neuen Freundin unterwegs, dass er am Ende darum bittet, sie möge ihm die Liebste doch lassen. Ein rührendes und verblüffendes Ende.

Kein Pathos, kein Drama - nur der prosaische Alltag

Oft beginnen oder enden diese Stories überhaupt überraschend, sie sind dramaturgisch geschickt arrangiert und leisten das, was gute Literatur stets leisten muss: Sie entführen uns in fremde Welten. Bei Lucia Berlin ist es die der Unterprivilegierten, der Frauen vor allem, die um ein besseres Leben kämpfen, um ein wenig Spaß, darum, nicht noch mehr zu verpassen. Der Ton ist rau und nur scheinbar authentisch, es gibt kein Pathos, kein Drama, nur einen prosaischen Alltag.
Das Werk Lucia Berlins ist eine literarische Entdeckung. Entstanden sind diese Geschichten in den 1960er bis 1980er Jahren.

Lucia Berlin: Was ich sonst noch verpasst habe
Mit einem Vorwort der Übersetzerin Antje Ravic Strubel
Arche Verlag, Zürich 2016
384 Seiten, 22,99 Euro

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