Luc und Jean-Pierre Dardenne: "Das unbekannte Mädchen"

Die Moralphilosophen des europäischen Kinos

Die belgischen Brüder Jean-Pierre (l) and Luc Dardenne (r)
Die belgischen Brüder Jean-Pierre (l) and Luc Dardenne (r) © picture-alliance / dpa / Nacho Gallego
Luc und Jean-Pierre Dardenne im Gespräch mit Patrick Wellinski · 10.12.2016
Seit mehr als 20 Jahren machen die belgischen Brüder Jean-Pierre und Luc Dardennes Filme über einfache Zeitarbeiter, über verzweifelte Arbeitslose oder kriminelle Teenagereltern. Auch in ihrem neuen Werk "Das unbekannte Mädchen" zeigen sie gesellschaftliche Ungerechtigkeit. Mit uns sprechen sie über ihre Weltsicht und die moralischen Konflikte ihrer Figuren.
Patrick Wellinski: Vielleicht fangen wir gleich am Anfang an: Vielleicht könnten Sie mal erklären, wie ein Dardenne-Film eigentlich entsteht. Ist da am Anfang immer ein Figur, der Sie ein moralisches Dilemma geben wollen oder ist da zuerst dieses moralische Dilemma, und dann suchen Sie eine Figur dafür, vielleicht am besten am Beispiel des aktuellen Films?
Luc Dardenne: Also zuerst immer die Figur, aber diese Figur befindet sich meistens in einem moralischen Dilemma oder hat ein moralisches Problem und muss versuchen, mit dieser Situation irgendwie klarzukommen.
Wellinski: Wenn wir jetzt Figur sagen, meinen wir in Ihrem aktuellen Film die Ärztin Jenny. Das Wort Figur ist vielleicht aber schon sehr viel gesagt, weil wir über sie eigentlich gar nichts wissen, nichts über ihren familiären Hintergrund, wir wissen eigentlich nur, sie ist eine Ärztin. Warum war es Ihnen wichtig, dass wir über sie relativ wenig bis gar nichts erfahren?
Jean-Pierre Dardenne: Jenny ist wie besessen davon, sie muss unbedingt herausfinden, wie heißt dieses unbekannte Mädchen, und deswegen hat sie kein Privatleben, weil sie das herausfinden muss, und sonst würde das keinen Sinn machen. Sie steckt wirklich ihre ganze Konzentration da hinein, wer war dieses Mädchen, dem ich nicht die Tür geöffnet habe und die gestorben ist.
Wellinski: Auf gewisse Art und Weise könnte man ja auch sagen, Jenny ist auch dieses unbekannte Mädchen.
Luc Dardenne: Nun, das stimmt einmal für den Zuschauer, es stimmt aber auch für sie selber, weil sie plötzlich in sich selbst etwas entdeckt, das sie nicht kannte: einmal ein Schuldgefühl, aber sie merkt eben auch, dass sie plötzlich doch ein ganz anderer Arzt sein möchte, der sie ursprünglich werden wollte. Sie möchte dann doch plötzlich ein Arzt in einer Kleinstadt bleiben, ein Arzt der Armen.

"Adèle Hanel kann Unschuld sehr gut ausdrücken"

Wellinski: Sie bekommt dadurch auch durchaus etwas Mysteriöses. Man könnte ja sagen, sie hat nicht nur die Fähigkeit, eine gute Ärztin zu sein, die Menschen zu heilen, sondern Menschen, denen sie begegnet, öffnen sich ihr gegenüber. Wie schafft sie das – auch die aggressivsten und verschlossensten Figuren –, ist das nur Empathie oder ist das mehr?
Jean-Pierre Dardenne: Es ist ihre Unschuld letztendlich, und dieses, was sie sich aus der Kindheit noch bewahrt hat. Genau deswegen haben wir Adèle Haenel genommen als Schauspielerin, weil sie das sehr gut ausdrückt. Natürlich ist sie eine Schauspielerin, die auch andere Dinge ausdrücken kann, aber wir fanden, das kann sie gut, und dafür wollten wir sie haben, und man könnte sagen, die schöne Unschuld, und das führt natürlich dazu, dass die Leute anfangen zu reden. Sie helfen ihr dabei, weil sie ihr helfen wollen, den Namen des unbekannten Mädchens herauszufinden, ohne Rücksicht auf sich selbst streckenweise. Sie wollen dieser Frau dann auch wieder etwas zurückgeben.
Wellinski: Wenn sie sich dann auf die Suche macht, dann tut sie ja nie so, als wäre sie jemand anderes. Sie sagt immer, ich bin Ärztin, und auf gewisse Weise begegnet sie jedem Menschen, als wäre es ein Patient. Irgendwann dachte ich, sehen Sie vielleicht so heute auch uns Zuschauer, sind wir alle letztendlich irgendwie Patienten?
Luc Dardenne: Ich werde das erst mal mit einer kleinen witzigen Anekdote beantworten: Eigentlich ist das Gegenteil der Fall. Unsere Filme haben Krankheiten provoziert, weil Rosetta, da war die Handkamera so stark, dass die Leute, die ganz in den ersten Reihen gesessen haben, einige mussten sich wirklich behandeln lassen, weil ihnen schlecht wurde. Natürlich haben wir bei unseren Filmen die Hoffnung, dass der Zuschauer überrascht ist und dass er auch etwas entdeckt in Figuren, denen er das gar nicht zugetraut hatte, und das führt dann dazu, dass der Zuschauer vielleicht ein bisschen verwirrt ist, überrascht ist, aber dass es seine Moral auch erweitert in einer gewissen Hinsicht und seine Vorurteile wiederum im Gegensatz dazu abnehmen.

"Man kann sich nicht retten, wenn man alleine ist"

Wellinski: Da Sie schon die Moral angesprochen haben: Jemand hat mal geschrieben, Sie seien die beiden Moralphilosophen des europäischen Kinos, und wenn man sich Ihre Filme ansieht, geht es ja auch immer darum, dass ein Mensch dem anderen Mensch begegnet, dass man die Hand ausstreckt. Warum ist Ihnen das wichtig, das zu zeigen, dass der eine Mensch eben nicht überlebensfähig ist alleine, sondern dass er immer den anderen braucht?
Jean-Pierre Dardenne: Um weniger allein zu sein. Man kann sich nicht retten, wenn man alleine ist. Unsere Figuren treffen ja immer auf jemand anderen, und durch dieses Aufeinandertreffen entdecken sie Dinge in sich selbst.
Wellinski: Das hat, weil Sie es so intensiv machen, manchmal etwas Religiöses, ohne dass es religiös ist. Ich glaube, das Wort Gott kommt nicht einmal bei Ihnen vor, und trotzdem muss ich an die Filme von Kieslowski denken, wenn ich sie sehe.
Luc Dardenne: Kieslowski ist schon jemand, den wir sehr geschätzt haben in den 80er-Jahren, und der "Dekalog" basiert ja auch auf dem Alten Testament, aber ich glaube, unsere Figuren schauen nicht wirklich nach oben. Sie schauen nicht in den Himmel, sie bitten nicht um göttliche Hilfe, sondern sie versuchen, die Hilfe wirklich bei ihren Mitmenschen zu finden, bei dem anderen oder selber anderen zu helfen. Das macht, glaube ich, unsere Figuren aus, und dann gelingt es ihnen manchmal auch, aus der ungerechten Situation auch herauszufinden.
Wellinski: Warum war es Ihnen eigentlich wichtig, dass das unbekannte Mädchen, nach dem Jenny letztendlich sucht, eine afrikanische Migrantin ist, vielleicht sogar ein Flüchtling? Sie bringen damit ja durchaus, auch wenn es vielleicht nicht beabsichtigt ist, eine tagesaktuelle Debatte mit rein.
Jean-Pierre Dardenne: Also die Figur einer Ärztin, die hatten wir schon lange im Kopf, und es gab schon mehrere Entwürfe, mit einer Hauptfigur als Arzt oder als Ärztin zu arbeiten. Da hatten wir auch schon Drehbücher zu verfasst, aber durch die aktuellen Ereignisse hatten wir plötzlich Lust, diese Geschichte schneller zu erzählen. Das erschien uns sehr wichtig. Es war nicht der einzige Grund, aber es war schon ein sehr wichtiger Grund.

"Wir wollten, dass die Kamera zuhört"

Wellinski: Hat das auch Einfluss auf die Art und Weise, wie Sie den Film gedreht haben, den Look des Films konkret? Es gibt ja einen Dardenne-Stil, über den schon sehr viel geschrieben worden ist. Sie arbeiten auch immer oder sehr häufig mit dem gleichen Team zusammen. Was war Ihnen für Ihren neuen Film da wichtig, wenn es um Ihren Look des Films geht?
Luc Dardenne: Also das ist eine Metapher, aber wir wollten, dass die Kamera zuhört, genauso wie Jenny in der allerersten Einstellung des Filmes zuhört mit ihrem Stethoskop eben den Atem ihres Patienten aufnimmt, und wir filmen ihr Ohr sehr oft. Die Kamera versucht immer – und das muss der Zuschauer entscheiden, ob es gelungen ist oder nicht –, aber wir versuchen, ein Schweigen auch einzufangen, eine gewisse Ruhe. Die Kamera filmt den Körper, aber der Ton war diesmal sehr viel wichtiger als sonst, um diese Ruhe festhalten zu können, und dadurch wirkt unsere Kamera auch passiver als sie es sonst war, etwas unbeweglicher, auch wenn wir immer noch in Plansequenzen drehen, aber wir haben uns da ein bisschen zurückgehalten diesmal.
Wellinski: Es ist ein Kriminalfall, und ein Kriminalfall im Kino, das ist ja auch immer irgendwie Genre auf eine gewisse Art und Weise. Haben Sie sich bewusst am Kriminalgenre orientieren wollen? Ihre Filme haben häufiger Genreelemente, aber das sind ja wirklich Spurenelemente. Wie stehen Sie zum klassischen Genrekino, wenn Sie Ihre eigenen Filme entwickeln?
Jean-Pierre Dardenne: Also ich glaube nicht, dass wir einen Genrefilm gemacht haben. Wir spielen nicht mit den Codes von Genrefilmen, nicht mit dem Handwerkszeug, und selbst, wenn wir es wollten, wären wir wohl nicht dazu in der Lage. Das liegt nicht in unseren Genen. Es stimmt, dass es eine Intrige gibt, die hat es auch schon in anderen Filmen gegeben bei uns, aber wir haben nicht dieselben Referenzen, wir haben nicht dieselben Figuren, die dann in so einen Film hineinkommen, und denen man versucht dann zu folgen oder ihnen aus dem Weg zu gehen.
Wellinski: Im Film gibt es einen wunderbaren Satz, den Jenny einmal sagt, nämlich auf die Frage, warum sie so dieses Mädchen unbedingt suchen will, ihren Namen herausfinden will, dann sagt Jenny, sie ist gar nicht tot, weil sie sonst nicht in unseren Köpfen wäre. Das ist ein sehr starker Satz, und ich wollte fragen, ob das nicht auch so eine gewisse Art und Weise ihre Berufsbezeichnung ist, dass Sie nämlich Filme über Figuren und Menschen machen, die sonst vergessen sind oder die man gerne vergisst?
Luc Dardenne: Also sie will ja den Namen dieses Mädchens wieder herausfinden, weil sie soll wieder Teil des Gedächtnisses, aber auch Teil der Gesellschaft werden, und deswegen muss Jenny unbedingt wissen, wie dieses Mädchen heißt, und das stimmt, dass in vielen unserer Filme, nicht unbedingt in allen, aber doch in vielen, es um Figuren geht, die am Rande der Gesellschaft stehen, aber doch wieder Teil sein wollen, wie beispielsweise Rosetta, die eben nicht mehr Teil dieser Gesellschaft ist, die wie so eine Ausgestoßene lebt, aber wieder hineinkommen möchte in diese Gesellschaft. Also das ist uns schon sehr wichtig, Geschichten von solchen Figuren zu erzählen.
Wellinski: Merci beaucoup!
Jean-Pierre Dardenne: Dankeschön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema