Lomé - ein Name, der nach Fernweh klingt

Von Alexander Göbel · 19.08.2010
Wer Lomé besucht, macht eine Zeitreise in die deutsche Kolonialgeschichte und Reise in das Zentrum der urbanen afrikanischen Lebenswirklichkeit der Gegenwart - geprägt von harter Arbeit, bitterer Armut aber auch vom Zauber der Lebensfreude.
Lomé – ein Name, der nach Fernweh klingt. Tropisch. Exotisch. Verheißungsvoll. Mystisch, wie sonst vielleicht nur: Timbuktu. Nur eben am Meer. Hier am Strand, auf der Bank unter den Kokospalmen, gerät Jean-Claude Abalo immer wieder ins Schwärmen. So möchte der Fotograf seine Stadt am liebsten immer sehen:

"Lomé liegt am Wasser, am Golf von Guinea. Es ist dieser wunderschöne Ozean, der den Menschen Lebensfreude gibt, auch wenn sie wenig zu lachen haben. Die Leute können ihr ganzes Elend einfach im Meer verklappen. Hier feiern sie ihre Feste. Der Strand lockt die Menschen an, besonders am Sonntag."

Die Sonntagsidylle ist trügerisch. Sie reicht nur ein paar hundert Meter ins Land hinein - bis zur Beach Road, der staubigen Straße mit den endlosen Bauarbeiten, die einmal zum Prachtboulevard von Lomé werden soll. Nebenan die Deutsche Botschaft, weiter hinten die teuren Hotels: das Palm Beach, das Sarakawa.

Jenseits der palmengesäumten Sandbank ist Lomé keine Stadt, in die man sich auf den ersten Blick verliebt. Auch nicht auf den zweiten. Aber vielleicht auf den dritten. Für viele bleibt es eine Hassliebe. Knapp eine Million Einwohner, zusammengewürfelt aus Zuwanderern aller Ethnien Togos: Ewe, Tem, Akebou, Gurma, Yoruba. Dazu Menschen aus ganz Westafrika und auch aus Europa. Sie sind gekommen, um zu bleiben. Lomé verspricht jedem etwas: Glück, Wohlstand, Zukunft. Und alle erwarten, dass die Stadt ihre Versprechen hält. Auch Pamela, die Schuhverkäuferin, die sich von der harten Arbeit ausruht:

"Wenn man Geld hat, kann man gut in Lomé leben. Wenn man keins hat, dann ist es die Hölle."

Wirtschaftlich ist Lomé längst weit zurückgefallen, hinter Accra, Cotonou, Ouagadougou – die Hauptstädte der Nachbarländer Ghana, Benin und Burkina Faso. Dabei war Lomé schon einmal auf der internationalen Weltbühne. Im so genannten Abkommen von Lomé wurden 1975 Handelsabkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den so genannten AKP-Ländern vereinbart - den früheren europäischen Kolonien zwischen Atlantik, Pazifik und Karibik. Lange ist das her. Zu lange.

Lomés Ruf ist verblasst, das Lomé-Abkommen ist mittlerweile durch ein Folgeabkommen ersetzt worden – ausgerechnet durch das von Cotonou. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts haben die Ewe Lomé gegründet, genau hier am Wasser, als kleines, unbedeutendes Dorf mit den Namen Bé und Alomé. Zu Deutsch: "Das Versteck in den Alo-Büschen" – dem dichten, bis zu vier Meter hohen Gestrüpp, das damals die gesamte Sandbank der Küste bedeck hat.

Das Versteck hält nicht lange. Afrikanische Händler entdecken den Sandstrand und machen ihn zu einem attraktiven Handelsplatz für Kokosnüsse und Palmöl. Die Häuptlinge der umliegenden Dörfer verdienen mit den Zöllen gutes Geld. Der Strand weckt die Begehrlichkeiten der großen Kolonialmächte der Region, der Briten und der Franzosen, die sich das noch nicht besetzte Stück Land einverleiben wollen. Dann kommen die Deutschen – als vermeintliche Retter.

Stummer Zeuge ist das schwarze, hölzerne Gerüst, das am Strand von Lomé rund einhundert Meter ins Wasser ragt: die verwitterte Landungsbrücke der deutschen Eroberer. Der Steg sieht aus wie ein altes Gebiss. Der schweren Brandung hat er nicht lange standgehalten, trotz deutscher Ingenieurskunst.

Die Kolonie Togo ist eine deutsche Kreation. Ohne die 30-jährige deutsche Herrschaft gäbe es das heutige Staatsgebiet Togo nicht, sagt Kwassivi Francis Amegan. Der togoische Germanist arbeitet trotz seines hohen Alters noch jeden Tag im Nationalarchiv von Lomé. Seit Jahrzehnten erforscht Amegan mit seinem Freund, dem Berliner Historiker Peter Sebald, die Taten und Untaten der deutschen Kolonialherren.

Lomés Straßennetz – ebenso wie die Eisenbahn eine deutsche Errungenschaft. Besonders prägend ist der Boulevard Circulaire, die Ringstraße, die der Innenstadt von Lomé den äußeren Rahmen gibt. Im Westen liegt der Gouverneurspalast, der Wohnsitz der deutschen und danach auch der französischen Gouverneure. Heute eine riesige Ruine, versunken in einer Parklandschaft. Damals ein echter Hingucker, ein stilprägendes Gebäude der kolonialen Architektur. Selbstverständlich mit Tennisplätzen.

Kwassivi Francis Amegan: "Die Togoer haben kaum Zugang. Die wohnen weiter in ihren Behausungen in den Parallelstraßen und kommen nur zum Arbeiten in dieses Viertel. Am Ende des Tages fahren sie in das afrikanische Viertel zurück. Sie haben also kaum Verständnis für diese Architektur."

Musterkolonie – so haben die Deutschen Togo genannt. Kwassivi Amegan kann nicht verstehen, warum selbst die Togoer heute den Ausdruck der Kolonialherren angenommen haben. Für ihn bleibt Kolonisierung ein Synonym für Unterdrückung, Ausbeutung, Verlust von Identität:

"Im Grunde genommen ist jede Kolonisation gleich. Natürlich gibt es Unterschiede. Aber grundsätzlich ist der Kolonialismus für die Betroffenen immer sehr hart gewesen. Und wenn nun sogar die Opfer von einer Musterkolonie sprechen, dann muss ich mich wirklich an diese Interpretation gewöhnen."

Zumal die Deutschen mit den Jahren immer brutaler auftreten, um ihren "Platz an der Sonne" zu sichern.

Peter Sebald: "Einen Rassismus hat es in jeder Kolonie gegeben, aber hier in der deutschen Kolonie Togo war es Gesetz, dass Menschen nach der Hautfarbe unterteilt werden. Und das ist für mich ein gewaltiger Unterschied, ob das gesetzlich verankert wird oder nur in der Praxis so gehandhabt wird."

Das wilhelminische Kaiserreich ist schließlich eine Militärmacht, entsprechend geht es auch in Togo zu. Die kleine Kolonie wird bald zu einem Apartheidsregime – mit strenger Verwaltung. Nur ein paar hundert Meter vom Gouverneurspalast entfernt liegt das ehemalige Bezirksamt – mit massiven kolonialen Säulen und einer umlaufenden Veranda. Heute dienst es als Schule. Eine Treppe führt hinauf in den ersten Stock – von hier kann man das Nachbargebäude gut sehen: das rotbraune, aus Zementsteinen gebaute Gefängnis.

Peter Sebald: "Wenn man sich fragt, was ist aus der deutschen Zeit noch in Betrieb - das sind die Kirchen und die Gefängnisse. Jede Zeit zeigt sich in ihren Gebäuden. In der deutschen Kaiserzeit hat die Kolonialverwaltung von Togo in 30 Jahren vier Schulen gebaut und zwölf Gefängnisse. Und da braucht man keinen Kommentar dazu zu sagen."

Der Grand Marché: ein chaotisches Farbenmeer. Überall Gedränge, kleine Stände, Läden aus Holz und Blech. Lautstark bieten die Fischer den Fang des Tages an, Frauen in bunten Kleidern balancieren gigantische Plastikschüsseln und Kisten auf dem Kopf: Im Gehen verkaufen sie Gemüse, Obst, Reis, Limonade, sogar abgelaufene Medikamente. In der schwülen Hitze riecht es streng nach faulendem Müll.

Motorräder kämpfen sich im Schritt-Tempo durch die Menschenmassen. Wer sich kein Auto leisten kann – und das sind viele – fährt Zemidjan, das für Lomé so typische Motorradtaxi. Zehntausende dieser billigen 80-Kubikzentimeter-Maschinen aus China knattern jeden Tag durch die Stadt. Ein harter Job für Thomas Naté:

"Es gibt hier keine andere Arbeit. Die Schule habe ich geschmissen, dann habe ich es auf dem Markt versucht - mit einem kleinen Kiosk. Meine Frau arbeitet auch hier und verkauft Seife. Aber die Geschäfte laufen schlecht, und deshalb fahre ich schon seit ein paar Jahren Motorradtaxi – um zu überleben."

So wie Thomas geht es den meisten hier. Von 100 Togoern haben vielleicht zwei einen richtigen Beruf. Togos Abstieg hat nicht nur mit der weltweiten Wirtschaftskrise zu tun. Auch nicht nur mit dem Kolonialismus. Sondern vor allem mit seiner politischen Führung, die das Land Schritt für Schritt zerstört hat. Dabei galt Togo mit seinen rund fünf Millionen Einwohnern einmal als die "Schweiz Afrikas". 50 Jahre Unabhängigkeit, das seien 50 verlorene Jahre, sagt einer, der alles miterlebt hat - Professor Kwassivi Francis Amegan:

"Ich war dabei, als der erste Präsident Sylvanus Olympio seine erste Rede gehalten hat, und wo er sagte – eigentlich ein Zitat aus der Bibel – ‚Die Nacht ist lang, aber der Tag kommt.’"

Doch nur drei Jahre nach der Unabhängigkeit gibt es einen Putsch, Hoffnungsträger Olympio wird ermordet. An seine Stelle tritt ein Langzeit-Diktator: Gnassingbé Eyadéma. Er macht Togo zu einem Polizeistaat. Der Name Eyadéma wird – wenn überhaupt – nur im Flüsterton ausgesprochen, überall sind Spitzel im Land unterwegs. Folter ist an der Tagesordnung, Menschenrechte zählen nichts. Kwassivi Amegan glaubt, dass der Kolonialismus mit Eyadéma einfach weitergegangen ist. Nur mit anderen Mitteln.

Eyadéma regiert Togo fast 40 Jahre lang wie sein Privateigentum - bis zu seinem Tod 2005. Dann lässt sich sein Sohn Faure Gnassingbé mit gefälschten Wahlen zum Präsidenten küren. Bei Protesten gegen den Wahlbetrug geht das Goethe-Institut in Lomé in Flammen auf, die Hauptstadt wird zum Kriegsgebiet. Die Staatsmacht kämpft gegen ihre Bürger. Binnen weniger Tage sterben weit mehr als 500 Menschen. Faure Gnassingbé übernimmt Togo von seinem Vater wie in einer Erbmonarchie. Lomé erlebt den freien Fall.

Bis heute ist Togo ein Familienbetrieb – mit einer reichen Präsidentenfamilie und einem bettelarmen Volk. Die Bauern im Hinterland von Lomé hungern, weil ihre Waren verrotten - sie haben keine Straßen, um sie zum Markt zu bringen. Von der versprochenen Autobahn von Lomé nach Ouagadougou keine Spur, die noch von den Deutschen gebaute Eisenbahn fährt schon lange nicht mehr.

Immerhin hat sich Deutschlands Verhältnis zu Togo gründlich gewandelt. Was als Apartheidregime begonnen hat, ist spätestens seit der Unabhängigkeit partnerschaftlichen Beziehungen gewichen. Den Tiefseehafen hat die Bundesrepublik gebaut. Er ist die Lebensader Togos, bedeutet aber auch für ganz Westafrika den Anschluss zum Weltmarkt. Die Hanns-Seidel-Stiftung hat das Handwerker-Gewerbezentrum zur Berufsschule gemacht - nach deutschem Ausbildungssystem. Im Goethe-Institut haben seit seiner Gründung mehr Togoer Deutsch gelernt als an allen staatlichen Schulen zusammen.

Unter deutscher Leitung versorgt die Brasserie du Bénin die Menschen mit EKU, dem Kulmbacher Bier. Beliebte Restaurants sind bis heute das Alt München, das Marox – und das Foyer des Marins, das Seemannsheim am Hafen – es ist berühmt für seinen deutschen Kuchen.

Hier geht Otto Heimbach ein und aus – schon seit mehr als 25 Jahren. Er sitzt am Pool, trinkt sein Bier, schaut in der Dämmerung den Flughunden zu und trifft immer älter werdende alte Freunde. Er liebt Lomé, weil diese Stadt eben das genaue Gegenteil ist von Dakar, Abidjan oder Lagos. Lomé beschreibt er mit drei erstaunlichen Begriffen: gemütlich, freundlich, warmherzig.

Otto Heimbach: "Lomé ist relativ klein, wenn man so will, eigentlich wie ein kleines Dorf, jeder kennt jeden. Die Weißen vor allem kennen sich gut, und die Restaurants sind noch da – der Hafen, der Boulevard, das ist das Flair, das hat irgendwie was. Das macht Lomé aus."

Jeder in Lomé kennt Otto. Den hageren Mittfünfziger aus Bielefeld. Die mehr als schulterlangen Haare sind mittlerweile genauso grau wie der Stoppelbart, noch immer trägt er Ohrring, Jeans und Turnschuhe. In den frühen 70ern hat er Deutschland den Rücken gekehrt - frustriert von der Kälte, sagt er, der klimatischen und der politischen. Er wendet sich der Reggaemusik zu – und geht auf Reisen. Per Anhalter über Griechenland, Ägypten, Sudan, Niger nach Togo. Lomé – kein Hippie-Kurort, sondern Endstation Sehnsucht. Schlussakkord einer abenteuerlichen Wüstentour, der Beginn eines neuen Lebens.

Otto Heimbach: "Und es war Treffpunkt mittlerweile, das hatte sich rumgesprochen. Hier kamen die ganzen Wüstenfahrer an, damals war eben der Trip Tunesien-Algerien-Niger-Benin-Togo oder Burkina-Togo, je nachdem, und Treffpunkt war eigentlich immer Lomé. Weil in Lomé war der Bär los, sozusagen."

Heute sitzt der Glücksritter etwas versonnen in seinem Stuhl im Seemannsheim und trauert den guten alten Zeiten hinterher. Von den Togoern habe er viel gelernt, sagt er. "Il faut se débrouiller" – man muss sich irgendwie durchwursteln.