Logbuch der menschlichen Existenz

Rezensiert von Claudia Kramatschek · 17.07.2006
In Le Clézios viertem und gleichzeitig persönlichstem Roman werden Generationen, Orte und Epochen geschickt miteinander verwoben: Zur Zeit des Algerien-Krieges erfährt der 13-jährige Jean in Erzählungen seiner Tante Catherine von der Geschichte seiner Ahnen, der Marros auf Mauritius, die bis zur Französischen Revolution zurückreicht. Kurz drauf macht sich der Protagonist selbst auf die Suche nach dem Glück in der Ferne.
Nizza, in den 50er Jahren. Jeden Nachmittag besucht der kleine Jean Marro - er ist zirka 13 Jahre alt - seine blinde alte Tante Catherine, die in der Dachwohnung einer Villa lebt, die den eigenwilligen Namen "La Kataviva" trägt. Hier taucht er ein in die Vergangenheit, denn jedes Mal erzählt Catherine ihm von Mauritius, wo Jean´s Familie einst ein Haus besaß - "Rozilis".

"Rozilis" aber ist längst verloren: 1910 musste das Anwesen aufgegeben werden. Für die Marros war es die "Vertreibung aus dem Paradies", und aus der Geborgenheit einer Heimat. Sie wurden zu Nomaden, die nach Europa kamen, in den Wirren des Krieges. Auch für Jean ist "Rozilis" eine Art Heimat - die er nie kennen gelernt hat. Und doch scheint ihm, dass dort seine Wurzeln sind, dass er - der sich vor der Zukunft fürchtet - nur versteht, wer er ist, wenn er dem Geheimnis von "Rozilis" so nahe wie möglich kommt.

Und dieses Geheimnis, die Aura des Ortes hütet Catherine. Denn ihre Erinnerungen sind keine Erinnerung an etwas Vergangenes - in ihren Worten lebt "Rozilis" fort, sind die Klänge und Farben, die Wälder und Vögel dieser Welt noch immer allgegenwärtig.

Die Geschichte der Marros auf Mauritius erstreckt sich über 200 Jahre, und Le Clézio verwebt sie in den Text, indem er Jean Eudes Marro zu Wort kommen lässt: 1798 landet er als erster Marro auf der Insel - enttäuscht von den verratenen Idealen der Französischen Revolution, für die er in die Schlacht gezogen ist - und legt darüber Bericht in einem Schreibheft ab

Es ist übrigens eine von mehreren Stimmen, die Le Clézio in den Erzählstrom der Gegenwart einflicht - sie alle aber zeugen von Umbrüchen und Aufständen, von Krieg und Revolution. Und sie verschränken die Vergangenheit mit der Gegenwart. Denn Krieg und Revolution als Bodensatz der Erfahrung - und die menschliche Niederlage, die damit einhergeht, orchestrieren den Roman von Anfang bis Ende.

Alle Figuren, denen wir begegnen, sind Gezeichnete: vom Krieg, von Revolutionen, von den Signaturen der Geschichte. Jeans Vater muss seinen Dienst in der britischen Armee quittieren, weil er einer jungen Kommunistin, in die er verliebt war, das Leben gerettet hat. Santos, Jeans Freund und ein Liebhaber der Philosophie, muss in den Algerien-Krieg und wird dort getötet. Mariam, die Algerierin, kann dem Krieg entkommen, aber nur als Waise.

Jean selbst flieht vor der Ungewissheit seines eigenen Lebens nach London und Mexiko - wo er die blutige Niederschlagung des Studentenaufstands miterlebt und Amerika bereits ein Land auf der anderen Seite des Zaunes ist. Erst dort kann er Mariam seine Liebe gestehen und beschließen, nach Mauritius zurück zu kehren - an den Ort seines verlorenen Ursprungs.

"Revolutionen" ist somit ein so wehmütiges wie aktuelles Logbuch der menschlichen Existenz - und eine elegische Hymne der Erinnerung. Denn Jean ist Le Clézios alter ego - auch der Autor hatte in seinem Leben Halt gemacht in Nizza, London, Mexiko. Und als Schriftsteller beantwortet er meisterlich Jeans Frage, was bleibt, wenn alles verschwindet: die Kunst der Worte, die Reflexion und Empfindung, Betrachtung und Einfühlung ineinander führt.

Jean-Marie Gustave Le Clézio: Revolutionen
Aus dem Französischen von Uli Wittmann.
Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln, 556 Seiten