"Löwen wecken" von Ayelet Gundar-Goshen

Eine nachhaltige Verstörung

Reifenspur am Tatort
Reifenspur am Tatort © picture alliance / dpa / Günter_Schiffmann
Von Carsten Hueck · 14.04.2015
Held dieses Kriminalromans der israelischen Schriftstellerin Ayelet Gundar-Goshen ist ein Arzt. Er kämpft in seiner Klinik gegen korrupte Kollegen. Doch dann bremst er auf dem Heimweg zu spät - und lädt selbst Schuld auf sich.
Erst seit kurzem arbeitet Eitan Grien als Neurochirurg im Krankenhaus von Beer Sheva. Aus dem urbanen Tel Aviv hat es ihn mit seiner Familie in den staubigen, öden Süden Israels verschlagen. Eitan ist Anfang Vierzig, ein guter Arzt, politisch links, ein aufrechter Charakter, ehemals Soldat einer Eliteeinheit. Seine Frau ist höhere Kriminalbeamtin, die beiden sind ein glückliches Paar und haben zwei kleine Söhne. Eitan hatte seinen Vorgesetzen bei der Klinikleitung angezeigt, weil dieser gegen Geldzahlungen Patienten bevorzugte. Doch statt den angesehen Professor zur Verantwortung zu ziehen, schickte man Eitan in die Wüste.
Nach zwanzig Stunden ohne Schlaf, nachdem er die VerlEinetzten eines Verkehrsunfalls hatte stabilisieren können, steigt Eitan in seinen Jeep. Es ist Nacht, er ist hundemüde, aber ein letzter Rest Noradrenalin hält ihn davon ab, direkt nachhause zu fahren. Er stellt die Musikanlage laut, Janis Joplin heult auf und mit 120 Stundenkilometern macht er bei Mondschein noch eine Spritztour durch den Negev.
Dabei überfährt er einen illegalen afrikanischen Immigranten. Sofort erkennt der Mediziner, dass er ihn nicht mehr retten kann und begeht Fahrerflucht. Am nächsten Morgen steht eine schöne Eritreerin vor seiner Tür. Sie hat Eitans Brieftasche neben der Leiche ihres Ehemannes gefunden.
Eine spannende und intensive Krimihandlung
Konzentriert und atemberaubend schnell entfaltet die israelische Schriftstellerin Ayelet Gundar-Goshen den Prolog zu ihrem zweiten Roman "Löwen wecken". Was danach folgt, ist eine spannende Krimihandlung, die einen Großteil ihrer Intensität dem Umstand verdankt, dass die Autorin den Alltag von Menschen beschreibt, deren Lebenswelten sich normalerweise nicht berühren. Die Autorin versteht es hervorragend, aus Zufall Zwangsläufigkeiten entstehen zu lassen.
Eitan, der selbstbewußte Arzt mit ethischen Grundsätzen, erkennt sich selbst nicht mehr. Er wird gezwungen, ein illegales Lazarett für Flüchtlinge einzurichten und verstrickt sich in ein Gewebe von Gewalt, Lüge, Erpressung und Angst. Es kommt zu weiteren Toten.
Die Kunst Ayelet Gundar-Goshens, die auch als Psychologin arbeitet, besteht darin, alle Protagonisten ambivalent zu zeigen. Sie gehören der bürgerlichen Schicht an und auch gesellschaftlichen Randgruppen, sind illegale Einwanderer, Drogendealer oder Mitglieder der beduinischen Stammesgesellschaft.
Der Roman ist so auch ein aktuelles Porträt der israelischen Gesellschaft mit all ihren sozialen Problemen. Das Werk geht uns darüber hinaus etwas an, weil es zeigt, wie Menschen in Situationen geraten, in denen hohe Ideale, aber auch Lebenslügen den Realitäten nicht standhalten.
"Löwen wecken" ist eine nachhaltige Verstörung, ein existentialistischer Roman, der den Leser veranlasst, seine eigene Position immer wieder neu zu hinterfragen - wie würde ich handeln?

Ayelet Gundar-Goshen: Löwen wecken
Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama, Kein & Aber Verlag, Zürich 2015, 423 Seiten, 22,90 EUR

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