Löhrmann: Kooperationsverbot in der Bildung aufheben

08.12.2010
Der Bildungsförderalismus verhindert Finanzhilfen des Bundes in den Ländern. Doch angesichts der jüngsten Pisa-Ergebnisse müssten Bund und Länder enger im Bildungsbereich zusammenarbeiten, findet Sylvia Löhrmann (Bündnis 90/Die Grünen), Ministerin für Schule und Weiterbildung in Nordrhein-Westfalen.
Hanns Ostermann: Was heißt eigentlich Bildungsföderalismus auf Chinesisch? Mit Sicherheit dürfte im fernen Reich der Mitte niemand etwas damit anfangen können. Umgekehrt warnen Bildungspolitiker hierzulande vor der Lern- und Drillkultur asiatischer Länder. Keine Frage: In China, Japan oder Südkorea genießt Bildung einen hohen Stellenwert, das schlägt sich auch in den neuen PISA-Ergebnissen nieder. Deutschland steht diesmal nicht so schlecht da, glaubt man den Worten etwa der Bildungsministerin Annette Schavan.

Aber wo stehen wir wirklich, und was hindert uns daran, weiter nach vorne zu kommen? Darüber möchte ich mit der stellvertretenden Ministerpräsidentin in Nordrhein-Westfalen sprechen. Sylvia Löhrmann ist auch Ministerin für Schule und Weiterbildung des Landes. Guten Morgen, Frau Löhrmann!

Sylvia Löhrmann: Guten Morgen, Herr Ostermann!

Ostermann: Die Ergebnisse erfassen ja nur einen kleinen Ausschnitt der schulischen Realität in Deutschland. Wie wertvoll sind sie dennoch?

Löhrmann: Na ja, sie sind schon sehr wertvoll, weil wenn es um die Schlüsselkompetenz Lesen angeht, kann es uns nicht gleichgültig sein, dass wir immer noch eine Risikogruppe von knapp 20 Prozent haben und ja auch in der Spitze nicht absolut top sind. Also das ist ein Ansporn für uns, das ist ein wichtiger Indikator: Wo stehen wir im OECD-Vergleich? Und wir sind ein bisschen hochgerückt, das ist gut, das zeigt, es hat was gebracht, dass wir in mehr Ganztag, in frühkindliche Bildung investiert haben, was ja auch politisch unstreitig ist, aber dass wir mitnichten jetzt die Hände in den Schoß legen können und sagen, es reicht jetzt. Ich sage mal, die Nation der Dichter und Denker müsste eigentlich das Ziel haben, international in die Spitzengruppe vorzudringen.

Ostermann: Warum treten wir bei der Lesekompetenz auf der Stelle?

Löhrmann: Weil es nach wie vor in Deutschland nicht gelingt, Kinder, die es von zu Hause nicht mitgebracht bekommen, aufzusteigen und gefördert zu werden, sozusagen so zu fördern, dass sie die gleichen Chancen haben. Also dieser Befund ist nach wie vor besorgniserregend, dass Kinder aus schwierigeren Milieus, Kinder mit Zuwanderungsgeschichte, die ja nicht per se dümmer sind als andere, dass es nicht gelingt, die angemessen zu fördern. Und die Befunde muss man sich im Detail angucken, um wirklich zu wissen, da müssen wir nachsteuern.

Und es gibt einen weiteren Befund, der wird auch ausgesprochen, das wird ja immer geleugnet: Die Länder, in denen die Kinder länger zusammen lernen, die haben nicht diese fatale Kopplung von Bildungserfolg, dass der abhängt von der sozialen Herkunft und vom Geldbeutel der Eltern.

Ostermann: Wie können wir noch besser werden? Sie haben ein Beispiel genannt, Annette Schavan wirbt ja auch für entsprechende Leseförderprogramme, die nicht unmittelbar an die Schule geknüpft sein müssen. Wie bewerten Sie diesen Vorschlag der Bundesbildungsministerin?

Löhrmann: Ja, der Vorschlag der Bundesbildungsministerin ist gut, Leseförderung ist ein zentraler Punkt. Ich finde das nur immer so witzig, wenn die Bundesbildungsministerin Vorschläge macht, und sie kann sie aber gar nicht unmittelbar in die Tat umsetzen, weil wir ja das leidige Kooperationsverbot haben. Das heißt, der Bund kann ja gar nicht in Schule investieren, weil CDU und SPD das in der Großen Koalition abgeschafft haben. Wir können keine Ganztagsinvestitionsprogramme mehr machen, wir können, müssen uns jetzt streiten, wer ist dafür verantwortlich, eine Prognose abzugeben, dass die Kinder im Hartz-IV-Bezug Nachhilfe bekommen und darauf eine Anspruchsberechtigung haben in diesem Von-der-Leyen-Gesetzentwurf?

Also das zeigt alles: Da ist doch ein systematischer Schritt jetzt geboten, nämlich, das Kooperationsverbot wieder aufzuheben, um die Gesamtverantwortung für Bildung – Bund, Länder und Gemeinden – nach vorne zu bringen. Und da würde ich mir eigentlich wünschen, dass Frau Schavan, statt Einzelprogramme anzukündigen, die sind gut und die können wir auch nutzen, aber systematisch wäre was anderes geboten.

Ostermann: Was ist systematisch mehr geboten, das heißt, wo sollte sich der Bund aus Ihrer Sicht mehr einklinken, mehr engagieren?

Löhrmann: Ja, es war ein Segen, dass Rot-Grün seinerzeit ein Vier-Milliarden-Programm aufgelegt hatte zum Ausbau der Ganztagsschulen, zum Ausbau der Infrastruktur. Das hat einen Schub gegeben, und der hat nachweislich auch geholfen, weil es ab 2003 deutlich nach oben gegangen ist, was die Lesekompetenz angeht. Und dass es sinnvoll ist, mehr Zeit zu haben für die Förderung der Kinder in den Schulen, das ist glaube ich offenkundig, und das könnte einen Schub geben.

Ein anderer Bereich ist das Thema Inklusion. Die Bundesregierung hat ein Abkommen unterschrieben, eine UN-Konvention zum gemeinsamen Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung, aber sie kann selber gar nichts tun. Das ist ein zweites Beispiel. Ein Schulmittagessen zu unterstützen für alle Kinder, wäre geboten. Also das sind Maßnahmen, die die Beteiligung insgesamt erhöhen, und die auch ein deutliches Signal, deutlich machen würden, aha, der Bund beteiligt sich auch an schulischen Aufgaben und nimmt damit den Ländern ja keine Kompetenz.

Ostermann: Sie haben eben von mehr Zeit in der Schule zubringen, Sie haben davon gesprochen und haben an die Ganztagsschule gedacht. Aber was nützt die Ganztagsschule, wenn parallel G-8, also das Abitur nach acht Jahren, für einen ungeheuren Druck bei Eltern und vor allem Kindern sorgt?

Löhrmann: Ja, da sprechen Sie einen wunden Punkt an, den mir zum Beispiel unsere Vorgängerregierung beschert hat, der aber mit PISA im Grunde nichts zu tun hat, aber natürlich das schulische Leben sehr stark bestimmt, das heißt, wir haben eine überstürzte Einführung eines G-8 gehabt, ohne Vorbereitung, ohne Schulbücher, ohne Lehrmaterialien, ohne einen Ganztag, den das im Grunde mittelbar bedeutet hat. Da steuern wir jetzt nach, damit wir da hinkommen zu kompetenzorientiertem Lernen und Unterrichten, auch in den Gymnasien.

Das heißt eben nicht, im Gleichschritt marsch durch ein Stundenprogramm, sondern viel stärker individualisierter Unterricht, auch für die Kinder und Jugendlichen in den Gymnasien, mit Zusatzstunden, die nicht wieder Stoff oben drauf packen, sondern mit Zusatzstunden, die da, wo es nötig ist, einzelne Kinder und Jugendliche unterstützen, damit sie das Lernen besser lernen.

Ostermann: Frau Löhrmann, die Worte höre ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. Wie wollen Sie das alles stemmen, was Sie formuliert haben, wenn zugleich nicht auch die Zahl der Lehrer erhöht wird?

Löhrmann: Wir behalten alle Lehrerinnen und Lehrer beziehungsweise alle Stellenpotenziale, die wir im Moment haben, im System Schule in Nordrhein-Westfalen, das heißt, die demografischen Effekte bleiben im System, die können genutzt werden für den Ausbau des Ganztags, für das große Thema Inklusion, für systematischere Unterstützungssysteme um Schule herum, weil wir ja auch die Lehrerinnen und Lehrer nicht für alles sozusagen in die Verantwortung nehmen können, weil Schule heute mehr ist als Unterricht. Und deswegen sind wir froh in Nordrhein-Westfalen, dass wir dieses Geld, was wir jetzt im System haben, auch zukünftig im System haben werden, um den Umbau weiter voranzubringen.

Ostermann: Nach PISA ist vor PISA, und der nächste Test kommt bestimmt. Über die jüngsten Ergebnisse sprach ich mit Sylvia Löhrmann, sie ist Ministerin für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen. Frau Löhrmann, ich danke Ihnen für das Gespräch!

Löhrmann: Ich danke auch!