Lob des Verzichts

26.05.2011
Könnte es sein, dass eine Verknappung der Energie unser Leben nicht ärmer, sondern lebenswerter macht? Dieser Frage geht der Schweizer Journalist Marcel Hänggi in seinem neuen Buch nach.
Eine klare Antwort liefert er nicht. Wie auch, es geht ja um die Zukunft. Sie lässt sich eben nicht eindeutig vorhersagen.

Dennoch gelingt es ihm, den Blick des Lesers zu schärfen. Vor allem, indem er darstellt, wie sich die Art des Energieverbrauchs auf das Zusammenleben der Menschen auswirkt. Hänggi stellt die richtigen Fragen. Die meisten Autoren, die sich mit der Energie der Zukunft beschäftigen, gehen noch immer am eigentlichen Thema vorbei. Sie fragen erst gar nicht danach, ob die Höhe des gegenwärtigen Ölverbrauchs wünschenswert ist.

Das ist Hänggi zu wenig. "Die Probleme, die sich im Zusammenhang mit Energie zeigen – nicht nur der Klimawandel – sind Schwindel erregend. Dieses Buch will deshalb radikal sein: an die Wurzeln unserer Gesellschaft, unserer Kultur, unseres Denkens rühren", schreibt er. Damit stellt er Fragen, die in den 70er-Jahren schon einmal auf der Tagesordnung standen. Damals fand die Diskussion viel stärker als heute in einem politischen und sozialen Kontext statt.

Ausgehend von der Geschichte der Energieträger Kohle und Öl stellt der Autor dar, in welche Abhängigkeiten wir uns begeben haben. Ohne Öl wäre unser heutiges Leben nicht denkbar. Produktion und Verkehr würden lahm liegen, das gesellschaftliche Leben erstarren. Auch das Aussehen unserer Städte und Landschaften wird immer stärker von den Bedürfnissen des Verkehrs dominiert.

Für diese Abhängigkeit zahlen wir seiner Meinung nach einen hohen Preis: die Aufgabe von Freiheit. Wir haben auf großtechnische Lösungen wie Atomkraftwerke und Ölkomplexe gesetzt. Damit haben wir die Wahlfreiheit eingeschränkt. Voraussetzung für Wahl ist Vielfalt. Diese garantieren Lösungen im Kleinen. Also eine dezentrale Versorgung. Sie verhindert gleichzeitig ökonomische Machtkonzentration. Zudem können Irrwege im Kleinen einfacher verlassen werden.

Das Ende des Ölzeitalters ist absehbar. In ihm liegt eine doppelte Chance. Indem wir zunehmend Energie aus Sonne, Wind oder Erdwärme nutzen, senken wir den Kohlendioxidausstoß und können den Klimawandel zumindest abbremsen. Mit diesem Umbau könnten gleichzeitig jene negativen Folgen korrigiert werden, die mit der Ausbeutung fossiler Brennstoffe einhergehen: Die Städte wieder dem Menschen anpassen statt dem Autoverkehr. Die ökonomische und politische Macht weltumspannender Energiekonzerne brechen. Mehr Mitbestimmungsrechte in den demokratischen Systemen verankern.

Das ist viel. Aber nicht genug. Die Industrienationen müssen künftig mit weniger Energie auskommen, ist Hänggi überzeugt. Auch, damit die Menschen im Süden mehr haben werden, die heute unterversorgt sind. Der Autor hegt die Hoffnung, dass Verzicht uns reicher macht. Gut möglich, dass unsere Lebensqualität steigen könnte. Weil wir in einer gesünderen Umwelt leben. Weil wir mehr Zeit füreinander hätten. Weil unsere Gesellschaft wieder menschlicher wäre. Radikal sind Hänggis Gedanken nicht. Aber visionär. Und ohne Visionen wäre die Welt ein Stück weit ärmer.

Besprochen von Uli Müller

Marcel Hänggi: Ausgepowert. Das Ende des Ölzeitalters als Chance
Rotpunktverlag, Zürich 2011
320 Seiten, 28 Euro