"Liu Xiaobo kennt hier niemand"

Moderation: Marietta Schwarz · 20.03.2012
Der Sinologe Wolfgang Kubin sieht die weltweiten Solidaritätsbekundungen für chinesische Regimekritiker wie Liu Xiaobo und Ai Weiwei zwiespältig. Die Menschen in China hätten ganz andere Probleme.
Marietta Schwarz: Am heutigen 20. März, dem Jahrestag der politischen Lüge, wollen sich Künstler aus aller Welt in einer Solidaritätslesung für die Freilassung Liu Xiaobos einsetzen – mit dabei Elfriede Jelinek oder in Berlin Herta Müller. Der chinesische Schriftsteller und Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo sitzt in Haft, ein Systemkritiker wie viele andere, gegen die die Regierung scharf vorgeht und künftig vielleicht noch schärfer, denn eine Novelle im Strafgesetz legalisiert jetzt auch Hausarreste von Verdächtigen. Wer die "Sicherheit des Staates" gefährdet, soll künftig ganz legal an einem geheimen Ort inhaftiert werden können, ohne Anklage und ohne Anwalt.

Menschenrechtler, unter ihnen etwa der deutsche Tom Koenigs, sind entsetzt, nicht so Wolfgang Kubin, Professor für Sinologie an der Uni Bonn. Er hat zurzeit eine Gastprofessur in Shantou im Süden Chinas. Ihn habe ich gefragt, wie er diese Gesetzesnovelle interpretiert, und er sagte dazu folgendes:

Wolfgang Kubin: Ich bin nicht sicher, dass das wirklich so ist, wie Sie das jetzt formulieren. Ich habe also versucht, die Gesetzesnovelle zu finden, und ich habe ganz das Gegenteil auf Chinesisch gefunden. Das heißt, Sie haben andere Informationen als ich. Ich muss allerdings gestehen, dass mir zugesteckt wurde, dass es eine solche Gesetzesnovelle möglicherweise doch gebe, aber diese gelte nur für Terroristen.

Schwarz: Liegen uns falsche Informationen vor oder Ihnen?

Kubin: Das kann ich jetzt nicht beurteilen.

Schwarz: Kommen wir vielleicht auf einen anderen Teil dieses Gesetzes zu sprechen, von dem wir hier in Deutschland gehört haben. Am selben Tag wurde ja beschlossen, dass Blogger sich künftig mit Klarnamen im Internet anmelden dürfen. Ist da jetzt schon abzusehen, wie das die Nutzung des Internets verändern wird, oder haben Sie dazu auch keine Informationen?

Kubin: Doch, dazu habe ich ganz viele Informationen, aber die stehen wieder quer zu der Meinung, die normalerweise gebildet wird. Bitte vergessen Sie nicht: Ich bin Querdenker, ich denke nicht schwarz und weiß. Ich erlebe täglich, dass ich von Chinesen E-Mails bekomme, wo kein Name erscheint, sondern irgendwas wie "Ginger Baby" oder "Rose Girl". Und dasselbe erscheint im Blog. Das heißt, die Leute nennen ihre Namen nicht und greifen unentwegt irgendwelche Leute an, unter anderem auch mich selber. Deswegen wird von einem Bürgerrechtler und von der Tsinghua-Universität in Peking diese neue Bestimmung zu meiner Überraschung begrüßt. Warum? – Er verlangt, dass endlich Chinesen, die Kritik üben, auch ihre Namen bekannt geben und Verantwortung übernehmen.

Schwarz: Das heißt, die haben keine Bedenken, dass die Setzung des Klarnamens in einem Blog möglicherweise Gefahren ...

Kubin: Aber das ist doch normal! Wenn jemand eine Meinung äußert, dann hat er seinen Namen zu nennen! Möchten Sie vielleicht in Ihrem Sender angegriffen werden von "Rose Girl" oder "Ginger Baby"?

Schwarz: Wir leben ja nicht in China und wir senden auch nicht aus China. Das ist vielleicht der Unterschied.

Kubin: Nein, nein, nein, nein, nein! Also man muss klar Meinung bekennen. Ich stehe hier im Unterricht an den chinesischen Universitäten. Ich sage dasselbe wie in Deutschland auch. Und es sitzt im Unterricht kein Geheimdienst, ich kann sagen, was ich will. Das Problem ist, dass ich das, was ich im Unterricht sage, natürlich nicht veröffentlichen kann. Ich werde ständig in China zensiert mit dem, was ich schreibe, aber nicht mit dem, was ich spreche.

Schwarz: Hört sich so an, als ob wir hier in Deutschland, vielleicht auch in der gesamten westlichen Welt ein komplett falsches Bild dieser chinesischen Regierung haben?

Kubin: So würde ich das jetzt bitte nicht formulieren. Die Sachen sind viel komplexer und viel komplizierter. Wir müssen aus diesem Schwarz-Weiß-Bild rauskommen, was bedeutet: bestimmte Regelungen gelten irgendwo, an denen machen sich dann Leute fest mit ihrer berechtigten Kritik, aber sie gelten anderswo wieder überhaupt nicht, und das ist dieses Chaos in diesem Land. Jeder macht was er/sie/es will. Da muss man sich durchwursteln. Also wenn die Japaner die Preußen Ostasiens sind, dann sind die Chinesen die Österreicher Ostasiens, die wursteln sich immer und überall durch. Wir beobachten das aus Deutschland völlig verbissen, während wir Ausländer hier vor Ort das Spiel uns anschauen und wissen, wie wir uns einzubringen haben, sodass es allen Seiten gut tut.

Schwarz: Das ist sehr interessant, was Sie sagen, Herr Kubin. Wo sehen Sie denn dann Handlungsbedarf, oder gibt es gar keinen?

Kubin: Der Handlungsbedarf besteht in der Diskussion, die wir miteinander zu führen haben, und es gibt von deutscher Seite in der Regel ja, aber nicht immer die Bereitschaft zu dem Gespräch. Es gibt große Differenzen, große Unterschiede und wir haben unterschiedliche Auffassungen über das, was Aufklärung ist, was Menschenrechte sind, in China und in Deutschland, das ist völlig klar. Darüber haben wir uns zu verständigen, miteinander zu reden. Die Zeit des Kalten Krieges ist vorbei, die Welt ist in einer Lage, wo wir es uns nicht mehr leisten können, uns beleidigt wie eine Leberwurst zurückzuziehen.

Schwarz: Herr Kubin, Anlass unseres Gesprächs ist ja die bereits erwähnte heutige weltweite Solidaritätsaktion. Man macht ja mit solchen Solidaritätsaktionen erst mal nichts falsch, zumal wenn es sich um einen Nobelpreisträger handelt. Man macht aber schnell etwas falsch, wenn man, wie vor einem Jahr Martin Roth, diese Kritik infrage stellt. Jetzt frage ich Sie, Herr Kubin: Wie wichtig sind denn solche Aktionen wie heute, wo die berühmtesten Literaten der Welt für Liu Xiaobo lesen?

Kubin: Man tritt bei uns ein für Leute, die hier überhaupt keine Rolle spielen. Liu Xiaobo kennt hier niemand. Und selbst Ai Weiwei, der hier bekannt ist, hat so gut wie überhaupt keine Fürsprecher, weil er als Scharlatan gilt. Die Menschen hier haben ganz andere Probleme, als wir das uns in deutschen Landen vorstellen. Das sogenannte einfache Volk denkt einfach nur ans Überleben und die Menschenrechte, so wie wir sie hochdefinieren, werden hier viel kürzer diskutiert, nämlich wie kann ich den morgigen Tag erreichen.

Das heißt, das was in Deutschland abläuft, das hat von hier gesehen etwas Elitäres, und was ich mit Überraschung und auch Bedauern festgestellt habe ist, dass hier sehr, sehr viele das ständige Hochjubeln von Ai Weiwei in Deutschland zutiefst übel nehmen und das auch total ablehnen.

Schwarz: Herr Kubin, danke für das Gespräch.

Kubin: Bitte.

Schwarz: Das war Wolfgang Kubin, Professor für Sinologie an der Uni Bonn und zurzeit mit einer Gastprofessur in Shantou.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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