Literatur

Worte voller Musik

Von Albrecht Dümling · 18.11.2013
Eine Aufbruchsstimmung markierte den Übergang zum 20. Jahrhundert: mehr Sinnlichkeit, weniger gesellschaftliche Konventionen. Der Dichter Richard Dehmel brachte das moderne Lebensgefühl in seinen Werken zum Ausdruck und begeisterte damit Komponisten, die sie vertonten.
Als Arnold Schönberg 1912 zu einer Aufführung seiner "Pierrot lunaire"-Melodramen nach Hamburg reiste, traf er dort den Dichter Richard Dehmel. Wenige Tage später schrieb er ihm, wie sehr er dessen Verse seit Jahren bewunderte.

"Ihre Gedichte haben auf meine musikalische Entwicklung entscheidenden Einfluss ausgeübt. Durch sie war ich zum ersten Mal genötigt, einen neuen Ton in der Lyrik zu suchen."

Der junge Wiener Komponist, der als Dirigent von Arbeiterchören begonnen hatte, war schon 1897 auf Dehmels Gedichtband "Weib und Welt" gestoßen. Die Farbenwelt dieser Lyrik inspirierte ihn zu einer neuen Harmonik.

Richard Dehmel, der Arnold Schönberg so stark beeindruckte, gehörte um 1900 zu den bekanntesten deutschen Dichtern. Als Sohn eines Försters wurde er am 18. November 1863 im Spreewald geboren. Das Studium von Naturwissenschaften und Nationalökonomie führte ihn zu einer materialistischen Weltanschauung. Nachdem er zunächst in einer Versicherungsgesellschaft gearbeitet hatte, wurde er 1894 freier Schriftsteller. Dehmel wollte eine antiromantische, sozial engagierte Kunst für eine große Leserschaft schaffen. Tatsächlich wurden seine Gedichte auch in sozial-demokratische Lyrik-Anthologien aufgenommen.

Er gehörte zu einem Künstlerkreis, der sich in Friedrichshagen bei Berlin traf und der "Lebensreform" verschrieb. Der Schriftsteller Heinrich Hart:

"Man träumte von einer neuen Renaissance, einem neuen sinnen- und kunstfreudigen Heidentum. Die Worte Lebensfreude, Ausleben, Sinnlichkeit und Freiheit gewannen neuen Inhalt. Die Werte, die Nietzsche geahnt, sollten sich in Leben und Tat umsetzen."

Besonders interessierte Dehmel das Verhältnis der Geschlechter. Sein Lyrikband "Weib und Welt" erregte Aufsehen, weil er die freie Liebe propagierte. So handelt das Gedicht "Verklärte Nacht" von einer unglücklich verheirateten Frau, die von ihrem Mann schwanger wird, wie sie ihrem Liebhaber bei einem nächtlichen Spaziergang gesteht. Schönberg hat dieses Gedicht 1899 als programmatische Vorlage für ein Streichsextett verwendet. Zu Beginn geht das Paar durch die dunkle Nacht. Der Mann verspricht, das fremde Kind wie sein eigenes zu lieben. Das schimmernde Mondlicht bestätigt und verklärt sein Bekenntnis.

Dehmels eigene Erfahrungen waren in dieses Gedicht eingeflossen, hatte der verheiratete Dichter sich doch kurz zuvor in eine ebenfalls verheiratete Frau verliebt. Es war Ida Auerbach, die einstige Muse des Dichters Stefan George. Richard und Ida ließen sich scheiden und wurden ein legendäres Paar. Man erkannte und bewunderte sie als die "Zwei Menschen" des gleichnamigen Versromans. Nach langen Reisen ließen sie sich in Hamburg nieder und bezogen 1912 ein nach eigenen Plänen erbautes Haus in Blankenese.

Als Arnold Schönberg im November 1913 dem Dichter zum 50. Geburtstag gratulierte, bekannte er:

"Fast an jedem Wendepunkt meiner musikalischen Entwicklung stand ein Dehmelsches Gedicht."

Viele weitere Komponisten, Richard Strauss, Max Reger, Anton Webern oder Hans Pfitzner, ließen sich damals durch Dehmels sinnliche, oft auch sozialkritische Lyrik inspirieren. Am Beginn des Ersten Weltkriegs meldete sich der Dichter freiwillig zu den Waffen. 1920 starb er an den Folgen einer Entzündung, die er sich im Krieg zugezogen hatte.

Obwohl sich seine Witwe weiterhin für sein Werk einsetzte, geriet es allmählich in Vergessenheit. 1933 wurde Ida Dehmel als Jüdin gezwungen, den Künstlerinnenverein zu verlassen, den sie selbst gegründet hatte. Angesichts zunehmender Verfolgungen nahm sie sich 1942 das Leben. Doch die durch ihre Liebesgeschichte mit Richard Dehmel angeregte Tondichtung "Verklärte Nacht" ist bis heute Schönbergs meistgespielte Komposition.
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