Literatur

Leichter als Luft

Heißluftballon über Tschechien, Juni 2014
Höhenflüge in der Poesie - inspiriert von Goethe bis Enzensberger. © picture alliance / dpa / Jiri Castka
Von Carola Wiemers · 19.09.2014
Die Luft wurde von den Menschen erst spät als Element wahrgenommen. Vom Urstoff des Lebens: in den Atem-Texturen von Goethe, Hölderlin, Rilke bis Celan, Enzensberger und Kling. Ein Feature mit poetischen Höhenflügen der besonderen Art.
Die Luft wurde von den Menschen erst spät als Element wahrgenommen. Vom Urstoff des Lebens: in den Atem-Texturen von Goethe, Hölderlin, Rilke bis Celan, Enzensberger und Kling. Ein Feature mit poetischen Höhenflügen der besonderen Art.
Neben Wasser, Feuer und Erde gilt die Luft als das flüchtigste und beweglichste Element. Der griechische Philosoph Anaximenes (ca. 585 v. Chr.-28 v. Chr.) erklärte die Luft erstmals in ihrer Erscheinungsvielfalt zur fundamentalen Substanz - zu einem Urstoff, der überall anwesend ist. Anaximenes war es auch, der in der eingeatmeten Luft - den Atem - ein alles belebendes Prinzip sah und auf die ständige Veränderbarkeit des Stoffes verwies.
Seitdem Otto von Guericke im 17. Jahrhundert mit seinem Experiment der "Magdeburger Halbkugeln" nicht nur den Luftdruck, sondern auch die Abwesenheit von Luft - das Vakuum - nachwies und der Naturforscher Robert Boyles zeitgleich das erste Gasgesetz erkannte, ist das Element immer mehr zu einem lukrativen Forschungsobjekt geworden. Ihr elementarer wie kreativer Charakter wurde in der Literatur, in der Kunst und Musik bewahrt. Schließlich bliebe die Poesie ohne Luft ein unbeweglicher, stummer Buchstabenkörper, ein seelenloses Totes.
Flüchtig und im doppelten Sinn unfassbar
Die Luft ist ein unsichtbares, aber allseits spürbares Element. Flüchtig und im doppelten Sinn unfassbar ist es wie die komplementären Elemente Wasser, Feuer, Erde stets in Bewegung. Die Metamorphosen verlaufen mit brachialer Gewalt oder sind kaum wahrnehmbar. Für den Menschen wird das enorme Potenzial der Luft im täglichen Wetterverlauf sichtbar, wo es mal nützlich-reproduzierende, dann chaotisch-vernichtende Kräfte entfaltet. Beim Ein- und Ausatmen nehmen wir an diesem Geschehen unmittelbar teil. Sich ihm zu entziehen, bedeutet den Tod.
"Im Atemholen sind zweierlei Gnaden:
die Luft einziehen, sich ihrer entladen.
Jenes bedrängt, dieses erfrischt:
so wunderbar ist das Leben gemischt.
Du danke Gott, wenn er dich presst,
und dank' ihm, wenn er dich wieder entlässt."
(Johann Wolfgang von Goethe)
Eine Büste von Johann Wolfgang von Goethe im Brentanohaus, aufgenommen am 23.01.2014 in Oestrich-Winkel (Hessen).
Eine Büste von Johann Wolfgang von Goethe im Brentanohaus in Oestrich-Winkel (Hessen).© picture alliance / dpa / Fredrik Von Erichsen
Atmen, Schreiben, Leben
Für Rainer Maria Rilke bedeutet Atmen Schreiben und Schreiben Leben. Im Gedicht "Atmen, du unsichtbares Gedicht" aus den "Sonetten an Orpheus", den griechischen Sänger und Dichter, vollzieht sich diese Symbiose. Jeder Atemzug ereignet sich als poetische Geste – als eine Art atmosphärischer Raumgewinn für das lyrische Ich. Doch nur die menschliche Stimme kann das rhythmische Ereignis zum Klingen bringen. Dem Stimmapparat müssen dafür Luftmassen zugeführt werden, sogenannte Phonationsströme. Rilke übersetzt diesen physikalischen Vorgang in ein poetisches Geschehen.
"Erkennst du mich, Luft, du, voll noch einst meiniger Orte?
Du, einmal glatte Rinde,
Rundung und Blatt meiner Worte."
(Rainer Maria Rilke)
Ein Stoff, aus dem Gefühle sind
1981 veröffentlicht die dänische Schriftstellerin Inger Christensen einen Gedichtzyklus mit dem Titel "alfabet". Mit äußerster Konzentration werden Gegenstände, Wahrnehmungen und Erinnerungen durchbuchstabiert. Behutsam tastet sich das Ich an den Worten entlang. Wie an einer Wand, wo die Gedanken und Gefühle das dünne Seil zwischen Sein und Bewusstsein spannen - und wo im nächsten Augenblick alles zerfällt, was gerade erst im Entstehen war.
"der stoff
der träume und alles woraus ein mensch
sonst noch gemacht war flattert
in der luft, einzelne klassische streifen aus gaze und flor
um die glasklaren gedanken
während tropfen von trauer auf einer reingewaschenen stirn ausbrechen;
wie wenn schiffe mit winddurchwehten
toten das sinkende wasser
verlassen und in der kriechenden sonne
durch die stadt segeln"
(Inger Christensen)
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