Literatur hinter Gittern

Von Julia Möckl · 22.01.2013
Jeder hat ein Recht auf Literatur, findet die Schriftstellerin Mirijam Günter. Seit 2006 gibt sie deshalb Workshops an Haupt- und Förderschulen oder in Gefängnissen - für Jugendliche, die sonst keinen Zugang zu Büchern haben.
"Das war meine erste Lesung im Gefängnis … mein erster großer Zeitungsartikel … meine erste Radiosendung."

Mirijam Günter zeigt auf Plakate und Zeitungsausschnitte, die an der Tür zu ihrem Arbeitszimmer kleben. Das wichtigste Erinnerungsstück hängt allerdings über ihrem Schreibtisch: ein unscheinbarer und schon leicht angegilbter Zettel.

"Ich hab ja eigentlich eine richtige Urkunde, also zwei - hab ja zwei Literaturpreise. Aber das hier ist von einem Jugendlichen aus einer Jugendarrestanstalt, der mir geschrieben hat. Dass ich halt so bleiben soll, wie ich bin, und dass er mich halt toll findet. Das muss man sich einfach aufhängen."

Weder der Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis, den Mirijam Günter für ihren Debütroman "Heim" bekommen hat, hängt an der Wand - noch der Jugendliteraturpreis der Bonner Buchmesse Migration. Die Schriftstellerin mit den wilden schwarzen Locken und den fast genauso dunklen Augen setzt andere Prioritäten. Seit 2006 bietet sie Literaturwerkstätten an - an Haupt- und Förderschulen und in Jugendgefängnissen.

"Weil's halt Orte sind, wo sich selten ein Schriftsteller hinverirrt. Und zweitens, weil ich halt denke, dass jeder Jugendliche ein Recht auf Literatur hat. Es gibt doch so ein Sprichwort: Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, muss der Prophet zum Berg."

Gedichte schreiben, Bücher oder Songtexte lesen
Also fährt die Autorin kreuz und quer durch Deutschland, schreibt mit Jugendlichen Gedichte, liest Goethe mit ihnen oder die Texte ihrer Lieblingsband Keimzeit. Ihre Workshops dauern meistens eine Woche, mittlerweile gibt sie im Schnitt zwei pro Monat. Die Kölnerin hat also nur wenig Zeit für Freunde und ihre Hobbys: Zeitung lesen und Fußball spielen. Auch ihren Mann, der in Paderborn gerade eine Ausbildung zum katholischen Seelsorger macht, sieht sie selten. Trotzdem macht sie ihre Arbeit gern:

"Ich bin natürlich stolz wie Hulle, wenn ich dann nach Hause komme, meine Sachen auspacke und sehe - da waren zehn Jugendliche und da steht jetzt ein Gedicht oder halt irgendwie die Briefe lese, die ich teilweise bekomme oder mein neues Armband bewundere!"

Die Schriftstellerin blickt auf ihr rechtes Handgelenk, an dem sieben oder acht Armbänder baumeln: Abschiedsgeschenke von Workshopteilnehmern, aus Leder geflochtene Freundschaftsarmbänder, aber auch Modeschmuck aus Silber- und Goldimitat. Ansonsten ist Mirijam Günter sportlich-schlicht gekleidet - mit Pulli, schwarzer Hose und Turnschuhen. Aber diese Armbänder sind ihr wichtig. Sie zeigen, dass die kleine Frau Ende 30 schnell einen Draht zu den Jugendlichen hat. Dabei hilft ihr ihre eigene Biografie.

"Meine ganzen Versuche, Fuß mit einem normalen Beruf in dieser bürgerlichen Gesellschaft zu fassen - das hat halt nicht funktioniert."

Ausbildung zur Köchin, Malerin, Lackiererin - alles abgebrochen
Mirijam Günter hat es mit einer Ausbildung zur Köchin versucht, zur Malerin und Lackiererin und zur Automechanikerin: alles abgebrochen. Genauso wie ihr Stipendium am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Über ihre Vergangenheit spricht Mirijam Günter nicht gern. Bekannt ist nur, dass sie in Köln aufgewachsen ist, als Jugendliche in mehreren Heimen war und auf der Hauptschule ihren Realschulabschluss gemacht hat. Kein Abitur, kein Studium.

"Dann kann ich mich halt auch hinstellen und sagen: Hey Leute, man muss an sich glauben. Wenn's kein anderer tut, muss man's halt selbst tun und sagen: Hier, ich bin's und ich werd keine Regalauffüllerin im Supermarkt und auch nicht, was irgendwelche Leute sich ausdenken, was aus mir werden soll - sondern ich werd das, was ich will! Und ich werd nicht untergehen!"

Auch sie selbst hat nicht aufgegeben, als sich vor rund zehn Jahren niemand für ihren ersten Roman interessierte. Fast zwei Jahre lang hat Mirijam Günter vergeblich nach einem Verlag gesucht. 2003 hat sie das Manuskript schließlich beim Kinder- und Jugendbuchpreis der Stadt Oldenburg eingereicht - und gewonnen. Ihr Roman "Heim" wurde daraufhin vom Deutschen Taschenbuch-Verlag veröffentlicht: die Geschichte einer namenlosen 13-Jährigen, die wie Mirijam Günter in Heimen aufwächst.

"Irgendwie hatte diese Welt uns nicht vorgesehen, es war kein Platz für uns. In dieser Welt gab es keine Jugendlichen, die sich vor Züge schmissen oder Tabletten schluckten und starben. Dort rasten nur die Bösen gegen die Leitplanke, und selbst die überlebten."

Mirijam Günter schreibt eine direkte, manchmal harte Sprache. Ihr zweiter Roman "Die Ameisensiedlung" handelt vom Alltag in einem sozialen Brennpunkt, in Artikeln für große überregionale Zeitungen schreibt die Autorin nüchtern über die Bildungsungerechtigkeit in Deutschland: Darüber, dass manche Jugendliche kein einziges eigenes Buch besitzen und so oft als "Assis" bezeichnet werden, dass sie sich irgendwann selbst so nennen. Mirijam Günter sucht sich keine schönen Themen aus, sondern Themen, die ihr wichtig sind:

"Man muss halt sich einfach hinsetzen und nicht daran denken, oh Gott, das nimmt ja jetzt eh kein Verlag, oder: Interessiert das jemanden, was du da hinschreibst? Sondern du setzt dich halt hin, weil du das wichtig findest, was da steht."

Schon als Jugendliche hat sich die gläubige Katholikin hingesetzt und geschrieben: was sie erlebt oder beobachtet hat, ihre Gedanken und auch Gedichte. Im Moment aber hat sie keine Zeit für einen neuen Roman, sondern besorgt Bücher für Jugendliche, die im Gefängnis sitzen und kümmert sich um Förder- und Spendengelder für ihre Literaturwerkstätten.

"Ich sag auch immer zu den Jugendlichen, zu denen ich gehe: Ich möchte, dass irgendeiner, was ich hier mache, mal übernimmt."

Wenn sie keinen Draht mehr zu den Jugendlichen hat, will Mirijam Günter mit den Workshops aufhören. Aber bis dahin bringt sie weiter Literatur an Orte, an denen sie keiner vermutet.