Literatur als zweckfreier Raum

Rezensiert von Gustav Seibt · 10.11.2005
Welche Bedeutung haben Literatur und Kunst für die Gesellschaft? Um diese und andere Fragen dreht sich das neue Buch "Das unaufhebbare Nichtbescheidwissen der Mehrheit" von Jan Philipp Reemtsma. Er räsoniert über den möglichen Sinn der Beschäftigung mit Literatur. Dabei erscheint ihm Literatur als Raum von Freiheit, zumindest von Zweckfreiheit.
Die sechs Reden über Sinn und Zweck vornehmlich von Literaturwissenschaft, die Jan Philipp Reemtsma unter dem hochfahrenden Titel "Das unaufhebbare Nichtbescheidwissen der Mehrheit" herausgebracht hat, entpuppen sich bei näherer Betrachtung als anspruchsvolle, aber keineswegs unzugängliche, sondern durchaus mitreißende Stellungnahmen zu einem alten Thema.

Seit den sechziger Jahren – um 1968 also – wurde die Frage nach der "Funktion" der Geisteswissenschaften, vor allem der Literaturwissenschaft, für "die Gesellschaft" immer wieder gestellt – in sehr kritischer Absicht. Die Antworten verwiesen damals meist auf einen Zweck außerhalb der Literatur: Philologie sollte ideologiekritischen, aufklärerisch-politischen, psychoanalytischen, gesellschaftstheoretischen und ähnlichen allgemeinen Absichten dienen.

Dagegen setzt Reemtsma die Wahrnehmung des Umstands, dass Literatur grundsätzlich Sprache anders verwendet als in herkömmlicher Kommunikation, dass sie also auch nicht einfach in praktisches, zweckgebundenes Reden übersetzbar ist.

Diese Selbstbezüglichkeit von Sprache beim literarischen Gebrauch sichert aber erstens das Überleben von Literatur in verschiedenen Epochen und zweitens, vor allem, das Vergnügen, das trainierte Leser an literarischer Sprache haben. Literatur wird Anlass lustvoller und geistvoller Gespräche, und die Wissenschaft von Literatur sorgt vor allem dafür, "dass uns [also den Literaturbegeisterten] die Gesprächspartner nicht ausgehen".

Ist das elitär? Nur dann, wenn der Eintritt in den Kreis der Gesprächspartner sozial reglementiert wäre. Das aber muss nicht sein – ein Hinweis an Bildungspolitiker. Im Kern aber bezeichnet der selbstzweckhafte Gebrauch von Literatur einen Raum von Freiheit, mindestens von Zweckfreiheit.

Reemtsma exemplifiziert das in seiner ersten Rede an einem wundervollen Gedicht von Christoph Martin Wieland über einen Garten. Dort tiriliert bezaubernd schön ein Vogel. Der Eigentümer des Gartens will dieses Wundertier zu Geld machen, also verkaufen, zu einem anderen Zweck als dem der Schönheit, verwenden. Das geht auf die graziöseste Weise schief, denn der Vogel beschwatzt den kaltherzigen Eigentümer, ihn frei zu lassen und fliegt davon, worauf der ganze Garten verdorrt – und das geschieht in einer Verssprache, die Reemtsmas These bestätigt: Man kann sie nicht nacherzählen, man muss sie wörtlich zitieren, denn sie ist nicht in ein anderes Idiom übersetzbar.

Also sei diese Rede mit dem in sie eingefügten Gedicht Wielands hier ausdrücklich zum persönlichen Nachlesen empfohlen.


Jan Philipp Reemtsma: Das unaufhebbare Bescheidwissen der Mehrheit
Sechs Reden über Literatur und Kunst.
Verlag C.H. Beck, München 2005.
170 S.,
Jan Philipp Reemtsma: "Das unaufhebbare Nichtbescheidwissen der Mehrheit"
Jan Philipp Reemtsma: "Das unaufhebbare Nichtbescheidwissen der Mehrheit"© C.H. Beck
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