Literatur als Probebühne des Lebens

Rezensiert von Thomas Stölzel · 03.11.2005
Dieter Wellershoff hat sich in seinen Büchern Themen wie Beziehungskonflikten oder individuellen Krisenerfahrungen gewidmet. Sein jüngstes Werk "Das normale Leben" umfasst zehn subtile Erzählungen über die alltägliche Glückssuche. Auch in diesem Band erweist er sich als präziser Beobachter.
Dieter Wellershoff: "Der Titel ist entstanden dadurch, dass ich selber einmal im Krankenhaus war, mit einer Herzattacke und Gott sei Dank war es kein Infarkt. Jedenfalls, als ich entlassen wurde, hat der Arzt zu mir gesagt: "Kehren Sie in Ihr normales Leben zurück." Und das wurde der Titel, weil ich auch gleich dachte: Was ist eigentlich das normale Leben?"

Die Frage des Autors wird bei der Lektüre der zehn subtilen Prosastücke, aus denen der Band besteht, auch zur Frage des Lesers, der hierbei vielleicht auch an sein eigenes Leben denkt.

Dieter Wellershoff: "Also, diese Erzählungen sind sämtlich keine Darstellungen von ungestörtem Alltag, sondern das sind alles im Grunde Krisenerfahrungen von Menschen, die in einer Gesellschaft leben, die ihnen sagt: "Nun verwirkliche Dich selbst! Mache Dein eigenes Spiel! Versuche, glücklich zu werden!""

Wellershoffs reiches und anregendes Œuvre, das bislang aus annähernd 40 Büchern besteht, ist ein auf die Gegenwart ausgerichtetes und aus ihr schöpfendes Werk, wenngleich der Autor so genannte überzeitliche Themen wie Beziehungskonflikte, individuelle Krisenerfahrungen oder – damit oft verbunden – eben die Suche nach einem glücklichen Leben darstellt. Kaum je verlässt Wellershoff die Zeit, in der er schreibt oder die er persönlich durchlebt hat.

Dieter Wellershoff: "Das normale Leben in unserer Gesellschaft ist ein solches Leben, in dem das Zentrum in der Individualität liegt. Unter diesem Glücksgebot, das auch natürlich das Glücksgebot einer Gesellschaft ist, die im Grunde nicht mehr daran glaubt, dass es Kompensationen für nicht gelebtes Leben in einem zweiten Leben gibt, um es mit Nietzsche zu formulieren: Das Leben nach dem Tod Gottes (...), die Vorstellung von Glück und Verwirklichung wird dadurch etwas ganz Säkulares und (...) Erfolgsorientiertes. Und das ist eine problematische Situation, auch illusionsanfällig."

Illusionen, Chimären, Wahngebilde, wild rotierende Vorstellungen – nicht eben wenige Figuren in Wellershoffs früheren Büchern sind davon besetzt oder getrieben. So trägt ein zweiteiliges Drehbuch des Autors bezeichnenderweise den Titel Phantasten. Im neuen Erzählband hingegen geht es ruhiger zu. Wellershoff erweist sich hier als ein stiller Meister. Abgründigkeiten und Intensitäten werden mehr angedeutet als ausgemalt.

Dieter Wellershoff: "Manchmal ist die Krise nur eine ganz geringe. Eine leichte Irritation, das Gefühl "Ich wiederhole mich" oder "irgendetwas steht still bei mir". Oder "ich bin nicht mehr genau derselbe" oder "mir fehlt etwas." Also sehr diskrete Krisen auch, die ab und zu auch eine sehr explosive Entwicklung nehmen."

Der lebenszugewandte Realist Dieter Wellershoff – der während seiner Lektorenzeit in den 60er Jahren für einen neuen Realismusbegriff in der Literatur eingetreten war und damit auf eine Reihe junger Autoren dieser Zeit inspirierend gewirkt hatte – erweist sich auch in seinem neuesten Buch als ein phänomenologisch präziser, ja, beinahe nüchterner Beschreiber von Situationen und Umständen, die vielen seiner Leser durch eigene Erfahrung bekannt oder mindestens durch Beobachtung vertraut sein dürften: Die besonderen Lockungen und Bedrückungen des Fremdgehens; die speziellen Sehnsüchte und Projektionen, die unerwartete Zufallsbekanntschaften auszulösen vermögen; das Welterleben nach einer bedrohlichen Erkrankung; Zuschauergefühle beim zufälligen Miterleben fremder seelischer Intimitäten oder das sich allmähliche Zurückziehen aus einem als schal empfundenen Leben in eine statische, gewissermaßen vortodliche Ruhe.

Dieter Wellershoff: "Bis zu einem gewissen Grade leben wir, indem wir Erfahrungen vermeiden, vor allem alle ruinösen."

... konstatiert Wellershoff und deutet damit Handlungsmöglichkeiten und Erkenntnisgewinne der Literatur an. In ihr können auch bedrohliche, ja destruktive Entwicklungen und Grenzerfahrungen bis zu ihrem Endpunkt in aller Deutlichkeit ausagiert und durchgespielt werden. Darin besteht sozusagen ihre bibliotherapeutische Komponente; von dieser hat Dieter Wellershoff in seinem umfangreichen Werk zu eigenem Nutzen wie zum Gewinn seiner Leser variantenreich Gebrauch gemacht.

Der 1925 in Neuss geborene und seit langem in Köln ansässige Autor ist in nahezu allen literarischen wie reflexiven Gattungen in Erscheinung getreten. Die Lektüre seiner Bücher zeigt oft in eindrücklicher Klarheit das große Maß an Komplexität und Widersprüchlichkeit, von dem das menschliche Leben geprägt ist. Dieter Wellershoff hat seinem neuesten Buch als Motto einen Satz des Philosophen Ludwig Wittgenstein vorangestellt:

Dieter Wellershoff: "Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems."

Und er fügt hinzu:

Dieter Wellershoff: "Da glättet sich das Bewusstsein bis ins Unsichtbare hinein. Wenn man das umgekehrt liest: Das Problem des Lebens erkennt man in der Krise, in den vielfältigen Krisen. Da erkennt man, was unser Problem ist. (...) Also insofern, glaube ich, ist der Satz nach beiden Seiten hin zu lesen: In der Verschärfung des Bewusstseins für die Probleme des Lebens und in der Problematik des Verschwindens der Problematik ..." (lacht leise)