Literarische Nachkriegsgeschichte

Von Christian Gampert · 27.01.2010
Marbach hat vom Suhrkamp-Verlag das Verlagsarchiv übernommen, für teures Geld. Darin enthalten sind umfangreiche Briefwechsel mit Autoren wie Thomas Bernhard, Uwe Johnson, Max Frisch sowie eine Verlagschronik. Eine Fundgrube für Literaturwissenschaftler.
Es hatte ein langes Gerangel um das Suhrkamp-Archiv gegeben: Die Frankfurter Universität wollte das Erbe des Verlags in der Stadt von Horkheimer und Adorno, der Frankfurter Schule halten; das Marbacher Literaturarchiv aber bot die besseren Möglichkeiten für Lagerung, wissenschaftliche Aufarbeitung und Ausstellung der Archivalien. Angeblich 8,2 Millionen Euro zahlt Marbach nun in Raten, und kurz vor Weihnachten beförderten drei Sattelschlepper 2600 Kisten mit Büchern, Korrespondenzen und Manuskripten an den Neckar.

Dort ist der Schatz, der nach dem Willen des Verlags künftig den Namen "Unseld-Archiv" tragen wird, immer noch in Kartons gelagert, aber der Projektleiter Jan Bürger führte nun ein paar Journalisten durch die Katakomben und öffnete einige Manuskript-Schuber und Aktenordner.

Klar wird vor allem die überdimensionale Rolle, die Siegfried Unseld, von 1959 bis 2002 Verlagschef, nicht nur im eigenen Hause, sondern auch in der Literatur der Bundesrepublik gespielt hat. Von ihm wurden "Autoren gemacht": Er dachte nicht nur an das nächste Buch, sondern an das Gesamtwerk.

Natürlich war Unseld ein gewiefter Geschäftsmann. Aber die liebevollen Zweikämpfe, die er sich mit seinen Autoren lieferte, die über Jahre dauernden Zwiegespräche, Ermutigungen, Forderungen – all das liegt nun vor. Koeppen, Bernhard, Johnson, Peter Weiss, Hans Magnus Enzensberger, Max Frisch: Manches ist schon erschlossen, anderes harrt der Bearbeitung – es gibt viel zu tun, sagt Jan Bürger.

"Die Arbeit mit diesem Archiv lässt sich insofern schwer mit der Arbeit mit anderen Archiven vergleichen, als man hier dauernd auf Überraschungen stößt. Dieser Suhrkamp-Verlag und auch der Insel-Verlag, die hatte eine solche Riege von hochrangigen Autoren, dass auch die Anzahl der Spuren entsprechend groß ist. Also man freut sich über einen Bestand zu Thomas Bernhard, guckt ein bisschen weiter und freut sich über einen Bestand zu Jurek Becker ..."

Und über weitere Bestände zu Peter Handke oder Martin Walser, der ja fast sein ganzes Leben Suhrkamp-Autor war.

Und es gibt sorgsam gepflegte Mythen, die sich aufgrund der Aktenlage nun nicht mehr halten lassen: "Ich bin nicht Stiller", der programmatische erste Satz des Stiller-Romans, den Max Frisch immer als Initialzündung für das ganze Werk beschworen hat: Er findet sich nicht im maschinenschriftlichen Verlagsmanuskript. Er muss folglich in die Druckfahnen hineinredigiert worden sein – aber von wem? Von Frisch selber? Von Unseld? Vom Lektor in Absprache mit dem Autor?

Wir wissen es nicht. Was wir aber jetzt schon wissen, aufgrund vieler Briefwechsel und Reiseberichte, die im Archiv lagern: dass Unseld seine Autoren in die verlagsinternen Debatten einbezog, dass er sich mit ihnen Themen ausdachte, dass er überlegte, wie man diese seit den fünfziger Jahren politisch konservative Republik in Bewegung bringen könnte ...

In der Suhrkamp-Küche wurde eben auch Politik gemacht. Zeugnis davon sind die edition suhrkamp und die wissenschaftliche Reihe, aber auch die Taschenbücher und Bibliothek Suhrkamp. Niemand, der in den 70er-, 80er-Jahren studiert hat, kam ohne sie aus, ohne Adorno, ohne Foucault, ohne Luhmann – was sich auch in den Bilanzen des Verlags niederschlug.

1500 Ordner der Abteilung "Rechte und Lizenzen" geben Auskunft über die Verkaufszahlen in bestimmten Regionen und über die Vertriebswege bestimmter Titel. Die Korrespondenzen der Lektoren mit ihren Autoren zeigen die Entstehungsprozesse, die Wege und Irrwege deutscher Literatur.

Unseld selber führte eine Verlagschronik, in der er minutiös die gesamte Arbeit festhielt; seltsamerweise gibt es eine interne und eine offizielle Version. Unseld schrieb jede Begegnung mit seinen Autoren auf, bis hinein in die Bemerkung, er habe Samuel Beckett über einen Fehler, die griechische Mythologie betreffend, aufgeklärt.

Der Archivbestand soll möglichst sofort der Forschung zugänglich gemacht werden: Wer ein wissenschaftliches Thema hat, wird in Marbach Hilfe bekommen – egal, ob es sich um das Pressearchiv, Handschriften oder Plakate handelt. Mit der Frankfurter Universität besteht ein Kooperationsvertrag. Bis alles richtig geordnet ist, wird allerdings Zeit vergehen. Zeit, sich auch dem Nebensächlichen zu widmen, den Geburtstagsgaben für Siegfried Unseld etwa, der von Uwe Johnson zum Fünfzigsten eine Collage bekam mit dem Titel: "Küssen Sie den Torwart der Liebe".

25 Kellerräume hat man in Frankfurt ausgeräumt. Es ist beruhigend, dass sich dabei auch eine Brecht-Büste anfand – allerdings: ganz hinten in einer Ecke, in einer Pampersbox.
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