Liebesroman

Ein Idyll im Schatten des Holocaust

Der Nebel lichtet sich am 13.12.2013 über dem Motzener See bei Motzen (Brandenburg). Rund um Berlin war am Freitagmorgen dichter Nebel. Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa
"Sie folgten dem Flug einer Schar Wildgänse, fühlten sich darin aufgehoben, als flögen sie selbst über den See." (Zitat aus "Sommer in Brandenburg") © dpa / picture alliance / Bernd von Jutrczenka
Von Anselm Weidner · 30.03.2014
Die Liebesbeziehung zweier junger Zionisten, die sich 1938 auf das Gelobte Land vorbereiten, erzählt Urs Faes. Ergänzt um Passagen, basierend auf Recherchen in Deutschland und Israel, gelingt ihm ein herausragendes erinnerndes Erzählen.
Der Ort: das Jagdschlösschen Ahrensdorf inmitten der Feuchtwiesen und Bruchwälder des Nuthe-Urstomtals, 30 Kilometer südlich von Berlin - eine Idylle. Die Zeit – ein Horror: der Sommer 1938, die Zeit vor dem Pogrom, der sogenannten “Kristallnacht“ und die Monate danach, vor Kriegsbeginn 1939.
Zitatorin: "Der Himmel blau, preußischblau, dieser große Himmel ... da sirrten die Libellen an diesem Spätnachmittag als Drohung über dem Schilf ... Sie hatte sich ihm zugewandt, als hätte er sie beim Namen gerufen. Elisabeth Harb, Lissy, sagte sie schließlich. Schon die Aussprache des Namens verriet ihre Herkunft, bevor sie anfügte, sie sei eben aus Wien angekommen. ... ‘Ronald Berend‘, aus Hamburg, ich bin schon einige Monate hier. Und er machte noch einen Schritt auf sie zu: Schalom. Die Stimme ruhte auf dem M, als sei es ein Doppeltes. Ein spritziges Servus kam zurück."
Zeilen aus den ersten fünf Seiten des neuen Romans von Urs Faes.
Zitatorin: “Wir sind ja schon auf halbem Weg nach Palästina. - Glaubst Du daran? Er nickte bestimmt. In diesem Augenblick schreckte sie das Dröhnen näher kommender Motorräder auf, die ... eine Wolke von Staub auf der sandig trockenen Fahrbahn aufwirbelten. Sie blickten den Fahrzeugen nach, den Gestalten, die mit theatralischer Geste den Arm hobe und in der Tiefe der Allee verschwanden. ... Übel sind die Zeiten, und übel geht es uns in Ihnen. Ihr Gesicht verschattete sich, keine Spur mehr von jenem übermütigen Lachen, das durchs Landwerk gedrungen war.
Schiller sagte sie.“
Die Protagonisten: Ron und Lissy, die sich in Ahrensdorf treffen. Das Landwerk, 1936 bis 1941 eine Hachschara, ein Ort, an dem sich junge Jüdinnen und Juden als Chawerot und Chawerim, eine neue Identität anzueignen versuchen, sich in landwirtschaftlicher und handwerklicher Ausbildung, mit Hebräisch lernen und Palästinakunde auf das harte Leben im Kibbuz im damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina vorbereiten.
Ein Meister der präzisen Andeutung
Alles, was die Dramatik des neuen Romans von Urs Faes ausmacht, ist schon auf den ersten Seiten mit wenigen Worten, oft poetischen Metaphern, angedeutet: Die Liebesbeziehung von Ron und Lissy, die bürgerliche, säkulare Herkunft der Meisten, die allgegenwärtige Bedrohung der jungen Zionisten durch die Nazis, die nagenden Zweifel, ob die Ausreise aus dem faschistischen Deutschland gelingen wird, die Idylle der weiten Brandenburger Landschaft. Urs Faes, ein Meister der präzisen Andeutung, die Assoziationsräume öffnet.
Hetzflugblätter werden über den Zaun geworfen und Scheiben der Gewächshäuser des Landwerks eingeworfen. Es gibt Überfälle, eine Ziege wird erstochen, Nacht- und Nebelaktionen mit Verhaftungen, die Schikanen nehmen zu, von Monat zu Monat deutlichere Zeichen, dass die Nazis die anfangs Geduldeten loswerden wollen - die jungen Jüdinnen und Juden im Schatten des Holocaust und ihr starkes Trotzdem des streng geregelten Alltags der Arbeit, des Lernens, des Feierns, der Vorbereitung auf das Gelobte Land und auch der Liebe.
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Cover: "Sommer in Brandenburg" von Urs Faes© Suhrkamp
Zitatorin: “Die Räder neben sich herschiebend bogen sie in einen schmalen Trampelpfad zum See ein. Ihre Arme berührten sich, ihre Hände fanden sich. Der Weg führte ans Ufer. Das Wasser zeichnete ihre ineinanderfließenden Schatten, lang und dunkel, der eine nicht vom andern zu trennen. ... Bei einer großen Kiefer blieben sie stehen, lehnten die Räder an den Baum. Sie folgten dem Flug einer Schar Wildgänse, fühlten sich darin aufgehoben, als flögen sie selbst über den See. Erst als sie in alle Richtungen geschaut hatten, umarmten sie sich. Ich weiß nicht, wie ich es ohne dich im Landwerk aushalten werde. Und ich soll reisen, ohne dich?"
Ja, 'Sommer in Brandenburg' ist ein Roman über die ‘Liebe in Zeiten der Dunkelheit', und das ist schon existentielle Spannung genug, für die der Schweizer Schriftsteller Urs Faes eine oft überraschend melodische, fein rhythmisierte, manchmal fast befremdlich sanfte Sprache findet. Aber der Roman ist viel mehr.
Zitator: “So viele unerzählte Geschichten, Efri zögert, es bleibt uns nur das Nacherzählen, auch in der Thora wird nacherzählt und bei den alten Geschichtenerzählern, die sichtbar machen, was verborgen und vergessen war. Kurz schweigt er. Es kann kein Vergessen geben; man kann nicht vergessen, was die Vernunft übersteigt. Das Unvorstellbare bleibt in Erinnerung, weil man nicht anders kann, als sich dagegen zu wehren, dass es geschehen ist.“
Fiktionaler und journalistischer Erzähler
Aus einer der Passagen mit der Überschrift 'Nacherzählen', in der der Autor von seiner Begegnung mit Efraim Jochmann in Jerusalem erzählt. Efri war als 13-Jähriger aus Breslau nach Ahrensdorf gekommen. Er ist einer der sieben noch überlebenden Ahrensdorfer. Diese eingeschobenen, durch einen besonderen Drucktypus im Buch hervorgehobenen Abschnitte unterbrechen den Erzählfluss des Romans.
Sie berichten von Begegnungen und Gesprächen während der zweijährigen Recherchen von Urs Faes in Deutschland und Israel. Aus dem fiktionalen wird ein journalistischer Nacherzähler – ein neues Stilmittel in der Romanliteratur, deutlich in einer kurzen Passage, in der er von der Entdeckung von Fotos aus der Hachschara Ahrensdorf, darunter einem der Protagonisten Lissy und Ron in einem Museum in Tel Aviv schreibt:
Zitatorin:"Das Licht aus dem weißen Sommerhimmel des Jahres 2012 verleiht den Bildern aus dem Gestern eine jähe Gegenwart und Lebendigkeit, die sich erzählen und nacherzählen lässt, nicht, was wirklich gewesen ist, aber was gewesen sein könnte, damals im Sommer 1938."
Erstaunlich, was durch diese überraschend wirkenden, aber genau platzierten Wechsel der beiden Erzählweisen gelingt: der Roman bekommt eine zusätzliche Gegenwärtigkeit, die Rechercheerzählung eine bewegende Tiefe. Wenn die Zeitzeugen nicht mehr selber reden können, ist, so genau wie irgend möglich zu recherchieren, eine Verpflichtung der folgenden Generationen; Fakten basiertes erzählen, sich Fakten fiktional anverwandeln, um sagen zu können: So könnte es gewesen sein. Das ist Faes' Erzählhaltung, so erzählt er Geschichte in Geschichten von Menschen nach.
"Sommer in Brandenburg" ein so spannender wie nachdenklicher, sprachlich fein gearbeiteter Liebesroman und zugleich ein herausragender Beitrag für einen neuen Modus des erinnernden Erzählens in Zeiten des Verschwindens der Zeitzeugenschaft.

Urs Faes: Sommer in Brandenburg
Suhrkamp, Berlin 2014
262 Seiten, 19,95 Euro

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