Liebesleid

Rezensiert von Michael Opitz · 24.07.2006
Als sich Andreas, ein Mann im mittleren Alter, entschließt, aus seinem bisherigen Leben auszusteigen, ist diesem Aufbruch eine medizinische Untersuchung vorausgegangen. Ohne das Ergebnis abzuwarten, lässt die zentrale Figur in Peter Stamms Roman "An einem Tag wie diesem "hinter sich, was bis dahin seinem Leben Halt verliehen hat: geregelter Tagesablauf, eine Anstellung als Deutschlehrer, zwei Geliebte und eine Eigentumswohnung in Paris.
Zunächst hat es den Anschein, als würde die Diagnose, an Lungenkrebs erkrankt zu sein, Andreas veranlassen, sein Leben zu ändern. Zumindest befördert die mögliche Erkrankung einen Entschluss: "Er würde sich heilen von diesem Leben, das keines gewesen war." Heilung verspricht er sich von einem Wiedersehen mit Fabienne, einer Jugendliebe, die unerfüllt und voller Unschuld geblieben ist – es gab nur einen Kuss.

Kein ungefährlicher Plot, den Peter Stamm für seinen Roman gewählt hat, denn solche Geschichten stehen stark unter Kitschverdacht. Liest man die letzte Seite des Romans, könnte der Verdacht Bestätigung erfahren. Aber es verhält sich anders. In Stamms Roman, in dem es um Liebesleid geht, um das Elend, das aus der Zweisamkeit entspringt und um den Fluch, von dem das Alleinsein begleitet ist, steht eine Frage im Zentrum: Ist dieser ewige Gleichlauf des Lebens, die Wiederholung des Immergleichen, jene Leere, die Andreas hinter sich lassen will, oder lauert sie gerade dort, wohin ihn seine Flucht führt?

Stamm hat seinen Roman klug komponiert. Er versteht es, das Geschehen durch den Einsatz sprachlicher Mittel entweder zu beschleunigen oder zu verlangsamen. Und vor allem verliert er die eingangs aufgeworfenen Frage, ob die "Leere der Normalzustand" sei, nie aus den Augen. Selbst in den Nebengeschichten findet er zu ihr zurück. Zwar will sich Andreas aus dem Lebenskokon, in den er sich eingesponnen hat, befreien, aber im Laufe des Handlungsgeschehens verstärkt sich der Eindruck, dass es dafür zu spät sein könnte. Da ihm die mögliche Krebsdiagnose den Weg nach vorn verstellt, entscheidet er sich, die umgekehrte Richtung einzuschlagen, und, angekommen in der Vergangenheit, erwacht er zwanzig Jahre zu spät aus einem Tagtraum.

Eingekeilt zwischen Vergangenheit und Zukunft erfährt er durch eine Grammatikübung, die er als Kassettenaufnahme während einer Autofahrt hört, wie banal es um sein Leben bestellt ist. Es unterscheidet sich kaum von dem fiktiven Tagesablauf, den der Sprecher auf der Kassette den Sprachanfängern vorträgt. Und eine rührselige Liebesgeschichte, die in einem Übungsbuch für Deutschlernende steht, ähnelt auf verblüffende Weise der, die er mit Fabienne hatte.

Ob er noch eine Chance erhält, sein Leben zu ändern, um wirklich neu zu beginnen, eventuell mit Delphine, der Frau, die ihn ein Stück auf dem neuen Weg begleitet hat, diese Frage lässt Stamm unbeantwortet – zum Glück!