Liebesglück im Horrorland

Von Christian Gampert · 12.01.2013
Im Schatten der Frankfurter Bankentürme hat Michael Thalheimer das Leben der kleinen Leute und ihre anachronistische Gefühlswelt in Szene gesetzt. Es ist eine der interessantesten Inszenierungen der laufenden Saison, meint unser Kritiker Christian Gampert.
Der soziale Abstieg wird schon von der Bühne vorgegeben: Olaf Altmann hat die Brandmauern freigelassen, und die ganze weite, 40 Meter tiefe Bühnenfläche ist schräg nach oben gekippt. Hinten, am äußersten Rand, wie auf einem Berg, stehen dunkle Gestalten im Dämmerlicht - Kriminelle, Nazis, Schieber, Lebedamen, Geschäftsinhaber, Arbeitgeber, Proleten, Väter, Mütter. Die Weimarer Republik, die der Regisseur Michael Thalheimer zeichnet, ist bevölkert mit lauter Horrorfiguren, Schattenrissen, Ausgestoßenen, Randgruppen, die nun selber andere wieder ausstoßen werden.

Von dort oben kommt eine junge Frau im Hängerkleidchen herunter an die Rampe, die Schauspielerin Henrike Johanna Jörissen. Sie spielt Emma Mörschel, genannt Lämmchen. Es ist völlig still, und lange Minuten wird Jörissen nun ins Publikum blicken und verschiedene Gesichtsausdrücke ausprobieren, die in der Hauptsache ein Lächeln sein sollen - das manchmal ganz gut gelingt und authentisch ist, das nach einer Weile aber verzwungen wirkt, das verrutscht und wieder neu aufgesetzt werden muss. Manchmal schielt sie ein bisschen zur Seite und beginnt zu lachen, dann wird sie wieder ernst und konzentriert sich auf ihre Mädchenhaftigkeit.

Mit kindlichem Optimismus durch die Welt
Hier ist jemand ganz wild zum Glücklichsein entschlossen: Emma Mörschel ist schwanger, mitten in Inflation und Arbeitslosigkeit, und sie versucht, das als große Chance zu sehen. Ihr Lover, ihr "Junge", der Buchhalter Johannes Pinneberg, ist nicht ganz so überzeugt davon, er druckst etwas herum. Als er sieht, dass es ihr ernst ist mit dem Kind, entschließt er sich zur Radikallösung: zum Heiratsantrag.

Die Freude, die nun ausbricht, ist reine Kindlichkeit: Die beiden tanzen umeinander herum, ohne von der Stelle zu kommen, sie freuen sich wie die Erstklässler - "wir bekommen ein Baby, wir schaffen das schon, und die ganze Welt kann uns nix". Thalheimer nimmt das ganz ernst: Nur wenn der Familien- und Sozialkitsch, der in Falladas Roman ja auch drinsteckt, rein, naiv und kindhaft daherkommt, wird er überzeugen können.

Und so sehen wir vorne an der Rampe immer wieder das Paar, das aus einem Kinder- oder Märchenfilm entsprungen scheint: Heidi für Erwachsene, züchtige Liebe mit roten Bäckchen, aber virtuos gespielt. Ständig wird uns vorgeführt, dass diese Naivität gestisch, körperlich hergestellt wird, ständig sind die beiden unter Dampf. Nico Holonics, der den Pinneberg macht, wirkt manchmal etwas zu übereifrig, zu dienstfertig in seinem Optimismus. Aber er zeigt auch die depressiven Seiten der Figur, die immer wieder aufgeben will. Lämmchen, die Ehefrau, ist da viel unerschütterlicher in ihrem Glauben an das Gute: Henrike Johanna Jörissen ist eine Schauspielerin, die schon aus ihrem stummen Vorhandensein Wirkung erzielt; wenn sie dann sprachlich loslegt, ist sowieso alles zu spät. Ach, Junge, wir schaffen das schon! Wir haben ja uns ...

Natürlich wirkt die Liebe der beiden anachronistisch, dieses sich selbst genügende Kinderglück. Das Unbedingte von Jörissen kommt quasi aus einer anderen Welt - aber Michael Thalheimer hat kapiert, dass der Roman, wenn man ihn denn auf die Bühne bringt, nur so funktionieren kann. Er wollte sich, ganz offensichtlich, auf den Beziehungskitsch einlassen, ihn aber dann aber relativieren - mit ganz vielen gestischen Formalismen, Konzentration auf die Sprache, mit strengem Licht, mit Choreografie.

Zweieinviertel Stunden psychologische Bußübung
Zunächst, sagt Intendant Oliver Reese, habe man ein ganz anderes Konzept gehabt, mit Live-Musik einer Band, mit vielen Requisiten und Kostümen, die die Akteure (besonders wohl die Nebenfiguren) auf der Bühne an- und ausziehen. Thalheimer hat die Band wieder ausgeladen, die Kostüme weggeschafft: Die Inszenierung ist ganz heilige (oder auch schwarze) Messe, Sprachübung, Ritual. Ein bisschen auch Grand Guignol, aber ohne die bei Thalheimer sonst üblichen Zappeleien und hysterischen Übungen zu überdrehen.

Ein wirklich souveräner Regisseur könnte aus dem quasi sakralen Schema der Inszenierung auch mal herausgehen, aus dem großen Schweigen und der Dunkelheit auch mal ins Entertainment, auf den Boulevard wechseln, ohne das Konzept gleich ganz zu kippen - man kann ja immer wieder zurück in die Bewegungslosigkeit. Thalheimer will das nicht, er ist Dogmatiker; er zieht die ganze Erzählstrecke, also volle zweieinviertel Stunden, als psychologische Bußübung durch. Aber auch das entwickelt seinen Sog: Am Ende steht Lämmchen als depravierte Mutter da wie in einem Gerhard-Hauptmann-Stück, und Pinneberg scheint mit seinem zerrissenen Hemd gerade aus einem Bandenkrieg zu kommen.

Streben nach dem privaten Glück
Früher, in den 1970er-Jahren, galt Fallada bei den Linken als Paradefall des apolitischen Literaten: Sein Pinneberg lernt nichts, er fällt dauernd auf die Nase, aber er will nur sein kleines privates Glück, und die kommunistischen Organisationen können ihn mal. Dabei gehört er einer Schicht an, die prädestiniert war für die nationalsozialistische Verführung: Die deklassierte untere Mittelschicht, die Angestellten, die Siegfried Kracauer in seiner berühmten Studie analysiert hat. Pinneberg wird nicht Nazi, er bleibt Illusionist, Familienvater - immerhin.

Und die Arbeitslosigkeit macht die Liebe bei Fallada nicht kaputt (wie bei Horváth in den Volksstücken). Sie macht sie zwar schwächer, doch sie ist noch da. Aber die Ökonomie greift andauernd nach den Figuren, sie zieht sie runter. Rein akustisch inszeniert Thalheimer die große Verliebtheit zunächst mit einem seifigen Ohrwurm, der auf einem Ennio-Morricone-Thema basiert. Der musikalische Leiter Bert Wrede dünnt das Arrangement mit zunehmender Verarmung des Paars dann immer mehr aus, bis nur noch Fragmente durch den Raum schweben und am Ende die Klingeltöne einer Art Spieluhr übrigbleiben.

Und drum herum stehen die Zombies der Weimarer Republik. Das ist Thalheimers zweite formale Lösung, die Choreografie. Emmas Prolo-Vater und Pinnebergs Halbwelt-Mutter, der gutmütige Kleinkriminelle Jachmann und die schräge, zeternde Vermieterin, der Verkäufer Heilbutt aus der Herrenkonfektion und die proletarischen Kollegen im grauen Arbeitsmantel: Sie bilden einen Schattenrisschor ambivalenter, gleichgültiger, brutaler, kasperlhafter, auch teuflischer Existenzen, die ab und zu nach vorne treten, um dem Paar etwas zu tun. Die wenigsten kriegen ein bisschen Freundlichkeit hin: Der Heilbutt des Martin Rentzsch ist zwar mephistophelisch und aalglatt, aber es scheint ihm Vergnügen zu bereiten, dem armen Pinneberg zu helfen. Und Michael Benthin macht aus dem Jachmann, dem Liebhaber von Pinnebergs Mutter, einen jovialen Berliner Luden, der sich ausdauernd die Haare nach hinten streicht.

Zwischen Märchen und Horrortraum
Während vorne an der Rampe also das Kinderglück inszeniert wird, ein junges Paar, das scheinbar jenseits der bösen Sexualität ein Kind bekommt und dann auf der sozialen Skala immer weiter sinkt, bis sie in ihrer Vorstadtlaube sitzen wie Maria und Josef im Stall, lässt Thalheimer hinten die Puppen tanzen, das Rotlichtmilieu, die Nazis, die Chefs und die Charaktermasken. Auch rein sprachlich sind das oft virtuose Kurzauftritte. Bis Pinneberg von einem Schaufenster vertrieben wird und merkt: Er gehört nicht mehr dazu zur menschlichen Gesellschaft, er ist ein Outcast.

Zwischendrin wird Thalheimer immer wieder rückfällig: Die Verkaufsgespräche des Johannes Pinneberg werden als sportive, akrobatische Pantomimen und Sprachanfälle inszeniert, begleitet vom Anfeuerungsgebrüll der Weimarer Lemuren. Aber das sei verziehen. Die Inszenierung oszilliert zwischen Märchen und Horrortraum; in dieser Ambivalenz ist sie eine der besten der gegenwärtigen Saison, und die Gefühlswelt der beiden großartigen Protagonisten ist so anachronistisch, so gar nicht von dieser Welt, dass sie uns über zwei volle Stunden zu fesseln vermag.


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