Liebe zum Kino

17.02.2011
Ein kleines Mädchen lässt die Welt des Kinos mit Worten entstehen. Sie wird zur bewunderten Filmerzählerin in einer chilenischen Minensiedlung. Bis das Fernsehen Einzug hält.
Das Leben in der Minensiedlung ist eintönig. Die Männer arbeiten im Salpeterabbau, die Frauen kümmern sich um die Kinder. Das Geld ist knapp, und die Menschen werden in drei Klassen eingeteilt: Die Arbeiter leben in Wellblechhütten, die Angestellten in Häusern aus Lehmziegeln, die "Gringos" in den "Villen mit Holzveranda". Die Ich-Erzählerin wohnt mit ihrem gelähmten Vater und den vier Brüdern in einem Schuppen aus Wellblech. Das einzige Vergnügen bietet das Kino, aber der Eintritt ist teuer, und das Geld reicht nicht für alle. Den Erzähl-Wettbewerb, den der Vater deswegen aus Not auslobt, gewinnt die 10-jährige Tochter. Sie besucht fortan allein das Kino und erzählt dann die Filme nach, die die anderen nicht sehen konnten.

Zuerst tut sie das nur für ihre Familie, bald aber auch für alle anderen im Dorf. Sie verdient mit ihrer besonderen Begabung sogar Geld, wird von alten Damen ebenso gebucht wie vom widerlichen Geldverleiher. Der hat es jedoch nicht allein auf ihre erzählerischen Talente abgesehen und wird dafür mit dem Leben bezahlen. Dass dieser Mord lange nicht aufgeklärt wird, stört jedoch niemanden, denn wie im Kino hat hier niemand Mitleid mit dem Bösewicht.

Der chilenische Autor, der selber wegen eines Preisausschreibens Anfang der 1970er Jahre mit dem Schreiben begonnen hat, erzählt vom harten Leben in der Wüste und vom reinen Glück, das das Kino bedeutet. Ein Glück, das mit nichts vergleichbar ist und seine kleine Heldin zum Star der Gemeinschaft macht. Dass alles anders wird, als das Fernsehen einzieht, dass nicht nur die Filmerzählerin ihre Faszination verliert, sondern überhaupt die Menschen vereinsamen und verstummen, dafür braucht der Autor nur wenige Zeilen. Wie es ihm überhaupt gelingt, Glück und Unglück eines ganzen Frauenlebens in kurzen Momentaufnahmen zu bündeln.

Die Dramaturgie des Kinofilms bildet die erzählerische Folie für diesen kleinen Roman, der nicht nur eine große Liebeserklärung ans Kino ist, sondern vor allem von weiblicher Überlebenskraft erzählt. Die politischen und sozialen Veränderungen, die das Land im Laufe der Jahrzehnte erschüttern, erwähnt die Erzählerin nur nebenbei: "Die Hippies tauchten auf. Der Mensch betrat den Mond (es wurde im Fernsehen gezeigt). Salvador Allende gelangte an die Macht. Einmal fuhr Comandante Fidel Castro bei uns durch die Hauptstraße – wir sahen nur, wie sein Bart hinter der Scheibe eines Jeeps vorbeischwebte." Der Militärputsch, der Tod der Mutter, die Schließung der Mine: Das Unglück kennt die Erzählerin aus dem Kino und hat es dort tränenreich durchlitten. Die Wirklichkeit reicht daran nicht heran.

Besprochen von Manuela Reichart

Hernán Rivera Letelier: Die Filmerzählerin
Aus dem Spanischen von Svenja Becker
Insel Verlag,Berlin 2011
104 Seiten, 14,90 Euro