Liebe wird zum Spiel

Von Tobi Müller · 04.11.2011
Im Maxim Gorki Theater werden in knapp drei Wochen alle Stücke von Heinrich von Kleist gezeigt. Das Festival anlässlich seines 200. Todestages beginnt mit "Käthchen von Heilbronn" in der Regie von Jan Bosse. Im Zentrum des Abends: Die Rückkehr Joachim Meyerhoffs.
Joachim Meyerhoff hat in diesem Haus, im Maxim Gorki Theater, mit seinen autobiografischen Abenden angefangen, die es mittlerweile auch als Prosa gibt ("Alle Toten fliegen hoch"). Dann ging er 2002 ans Deutsche Schauspielhaus in Hamburg, spielte die allergrößten Rollen und wurde in Wien zum Theaterstar - in der vielleicht einzigen Stadt, wo es noch Theaterstars gibt. Und weil Meyerhoff kaum TV oder Kino macht, haben Abende mit ihm auch außerhalb Wiens eine besondere Aura. Es gibt wenige wie ihn, für die man tatsächlich ins Theater muss, um sie zu sehen.

Sein Spiel ist oft, was man veräußert nennt, outriert oder, in seinen eigenen Worten: vehement. Eher expressionistisch hart und überzogen als impressionistisch kandiert. Rein äußerlich könnte man das auch manieristisch nennen, aber ich glaube, Meyerhoff begreift die Rolle ganz ernsthaft und, wenn es das gibt, von tiefstem Herzen jeweils so kräftig (und immer anders). Sein Graf Ritter vom Strahl in diesem "Käthchen" tritt in voller, grotesker Rüstung auf und tönt beim Femegericht gleich mal, was das Zeug hält.

Ein Ekel, eine Witzfigur, aber halt auch ein Mann, der aus dem Krieg kommt und dahin auch wieder zurück muss. Wer im Schlachtfeld lebt, dessen Sitten sind selten so klassisch, wie es manche Klassiker wollen. Kann schon sein, dass dieser Typ das 15-jährige Mädchen, das ihm nachstellt und im Stall schläft, erst nach verrichteter Notdurft nach Hause geschickt hat.

Daneben steht die Gorki-Ensemble-Schauspielerin Ruth Reinecke als Käthchens Vater, Theobald, und spielt dabei ganz anders. Hier steht ein medikamentös ruhig gestellter Spießer, der ängstlich leidet, weil die Tochter durchdreht - wer wollte es ihm auch verargen. Bosse arrangiert hier Figuren und Spielweisen, die disparat erscheinen, aber genau deshalb so gut zu diesem Stück passen, ja zu fast jedem Stück von Kleist. Das ist nicht die geschmeidige und gute Dramaturgie, der große Faltenwurf, das Bild vom Menschen. Kleist - und hier: Bosse -, das sind Kluften, schroffe Felsen, Idyllen direkt neben Jauchegruben.

Bosse begreift das romantische Arsenal bei Kleist durchaus komisch. Nicht nur, wenn das Schaumstofffigurentheater "Das Helmi" die Nebenfiguren und am Schluss auch den Kaiser spielt. Kleist ist auch Schmierentheater, Quatsch, Krudes, wenn man mal die Oberstudienratsbrille ablegt und nüchtern draufschaut. Bosse, eigentlich der Feinmechaniker, Theaterdenker und Textkenner in seiner Liga, beleuchtet die Kanten des Stücks. Und holt es da in die Gegenwart, wo Kleist noch in einem einfachen Geschlechtermodell feststeckte.

Kunigunde, die Nebenbuhlerin, ist bei Kleist die "mosaische Arbeit", die zusammengesetzte Person, ein Werk aus Prothesen und Täuschungen (Sabine Waibel nimmt viele Angebote an: Puppe, Monster, Barbarella, Zappelcyborg aus "Blade Runner": auch ihr Spiel ist, wenn man will: mosaisch und macht gerade deshalb Spaß). Viele Worte, Zeiten und Referenzen für einen Effekt: jenes des Nicht-Authentischen.

Man kann jetzt immer behaupten, das Käthchen sei ja gerade der authentische Gegenpol, der wahre Kern des Lebens und der Liebe. Allein, verdammter Kleist, wenn das so sein soll, müsste man etwas mehr Wissen, was das Frollein antreibt, den Ritter so derart hündisch zu verfolgen. Anne Müller, eine wiederum äußerst ernsthafte und weißblonde, pergamenthäutige und doch so starke Schauspielerin, verrät dieses Begehren nicht an einen banalen Grund. Es bleibt ganz lange: undurchsichtig.

Der Abend nimmt noch einmal eine neue Wendung kurz nach dem Burgbrand. Die Theatermetaphern, die Bosse wie immer dankbar annimmt, werden jetzt forciert. In der Mitte dreht sich ein Bühnengestänge. Die Szene beim Holunderbusch, in der Käthchen schläft, schlafwandelt und Kleist einen vorauseilenden Blick auf die Entdeckung des Unbewussten wirft, leitet das sehr schön ein.

Der Holunderbusch ist eine Pappschachtel, der Busch also Einbildung, Spiel, Illusion. Der Graf stürzt sich auf dieses Käthchen wie ein geiler Hund, das ist nicht zärtlich, aber ist es deswegen nicht dennoch Liebe? Liebe wird zum Spiel, nicht zur Lüge. Bis zur Hochzeit. Puff. Käthchen, Schall und Rauch. Oder hat man da schon wieder das Schlachtfeld gehört?
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