Liebe und Einsamkeit in der griechischen Provinz

Von Bernd Sobolla · 07.05.2012
Die Regisseurin Athina Rachel Tsangari hat nicht nur ein berührendes Porträt einer ungewöhnlichen Vater-Tochter-Beziehung in einer kleinen trostlosen Industriestadt gezeichnet, sondern auch ein Bild des krisengeschüttelten Griechenlands gemalt.
Marina, gespielt von Ariane Labed, ist 23 Jahre alt, etwas scheu und lebt in einem kleinen Ort irgendwo an der griechischen Küste. Gelegentlich macht sie kleine Fahrten für ein Industrieunternehmen, auf dessen Gelände man weder Arbeiter sieht noch Produktionsgeräusche hört. Ansonsten kümmert sie sich um ihren krebskranken Vater, alias Vangelis Mourikis. Sein Tod scheint nicht fern, und ihre Gespräche klingen – für Vater und Tochter - ungewöhnlich vertraut - fast provokativ:

"Hast Du dir schon Mal vorgestellt, wie ich nackt aussehe? - Nein, nie. Ein Vater verbietet sich solche Gedanken über seine Tochter. - Ist das ein Tabu? - Es gibt einen Grund, warum wir Säugetiere Tabus haben. Es sichert die Fortpflanzung ohne Mängel. Ich habe mir dich schon mal nackt vorgestellt. - Schäme dich!"

Die ungewöhnliche Offenheit liegt allerdings vor allem an Marina. Denn die junge Frau befindet sich in einer Selbstfindungsphase. Mit Ausnahme ihrer Freundin Bella hält sich Marina von anderen Menschen fern. Die unkonventionelle Bella bringt ihr bei, wie man sich küsst – auch wenn das mit Marina eher slapstickartig wirkt.

Und sie erklärt ihr, dass die sexuellen Erkenntnisse, die Marina sich aus den Tierfilmen von Sir David Attenborough abschaut – und den sie fälschlicherweise "Attenberg" nennt -, dass diese nicht unmittelbar auf Menschen übertragbar sind. Fast scheint es, als sei Marina eine Autistin, die sich müht, menschliche Verhaltensweisen nachzuahmen. Und die starren Kameraeinstellungen und langen Szenen unterstreichen dies. Doch Regisseurin Athena Rachel Tsangari sieht das anders.

"Sie ist ein Mensch, der unabhängig von allen anderen beschließt, wann und wie sie sich dem Leben stellen will. Normalerweise haben Mädchen als Teenager ihre ersten sexuellen Kontakte. Aber das geschieht nicht unbedingt, weil wir es so wollen, sondern weil die Umwelt auf uns Druck ausübt. Für mich ist es ein Zeichen von Freiheit, selbst zu entscheiden, wie man aufwachsen will, und es nach eigenen Regeln zu tun.”"

Mit kindlicher Naivität redet Marina mit Bella über Sexualität und Leben, und mit ihrem Vater über Tod und Vergangenheit. Das Ganze in ruhigen, intensiven Sequenzen, vor einer weitgehend menschenleeren Stadt. Dann lernt Marina den etwas älteren Spyros kennen. Zwischen den beiden entwickelt sich langsam eine Beziehung. Wenn auch eine etwas skurrile.
"Attenberg" ist Drama und Komödie zugleich, zeigt Freundinnen, die giggeln, tanzen und sich doch auch fremd sind. Und als die beiden Frauen im heitersten Moment des Films ein Lied zusammen singen, ertönt kein griechischer Song, sondern französische Musik.

Dann allerdings verlässt der Film seine introspektive Sicht. Die Krankheit von Marinas Vater schreitet voran. Und über die Dächer der Kleinstadt blickend resümiert er, der ehemalige Architekt, ohne zu klagen, aber doch mit Wehmut:

""Es ist, als ob wir Ruinen konstruieren. Als ob wir ihren Zusammenbruch mit mathematischer Genauigkeit berechnen. Was für eine bürgerliche Arroganz! Insbesondere für ein Land, das das Industriezeitalter übersprungen hat: Von Schafhirten zu Planierraupe und Bergwerken, und von Bergwerken direkt zu kleinbürgerlicher Hysterie. Wir haben eine industrielle Kolonie auf Schafställen gebaut und dachten, dass wir eine kleine Revolution machen."

Diese Momente können durchaus als kritische Bestandsaufnahme des Zustands Griechenlands gesehen werden. Auch wenn es Athina Rachel Tsangari nicht darum ging, die politische Situation Griechenlands zu kommentieren:

"Aber das Drehbuch wurde während der ersten Unruhen in Athen geschrieben. Und der Film wurde gedreht, als offiziell von Griechenlands Staatskrise gesprochen wurde. Also der Film trägt ganz bestimmt den Zeitgeist in sich.

Und ich denke, dass der Vater für eine Generation steht, die sich von ihrem eignen Land, ihrer eigenen Regierung sehr betrogen fühlt. Und dann wurde auch noch die Stadt, wo wir drehten, von einem französischen Konzern gebaut. Sie repräsentiert sozusagen den ersten Streich des realen Industriekapitalismus in Griechenland. Und jetzt ist es eine Geisterstadt."

"Attenberg", das ist europäisches Autorenkino, das an Filmemacher wie Theo Angelopoulos und Rainer Werner Fassbinder erinnert. Ein wenig düster, aber mit interessanten individuellen Charakteren. Eine Geschichte über das Erwachsenwerden und doch aus einer sehr ungewöhnlichen Perspektive. Und immer mit einem Blick auf den Tod. Wobei uns die Augen der Protagonisten zuzwinkern, die auf die Absurdität des menschlichen Daseins blicken.