Liebe in der Schokoladenfabrik

Von Jörg Taszman · 08.08.2011
Liebe und Schokolade - das ist eine überzeugende Mischung, die es immer wieder auf die Leinwand schafft. In der französisch-belgischen Komödie "Die anonymen Romantiker" geht es um schüchterne Verliebte und bitter-süße Gefühle.
Sie steht vor dem Schaufenster einer kleinen Schokoladenfabrik und übt laut, was sie beim Vorstellungsgespräch sagen soll. Angélique ist Mitte 30 und wirkt etwas verhuscht. Kurz darauf steht sie vor Jean René, dem sehr steifen Chef, der sich in seiner Haut auch nicht besonders wohlzufühlen scheint. So gibt er sich zunächst ganz als Profi.

Szene aus dem Film:
"Viele halten Schokolade für eine Süßigkeit.
Bitter?
Pardon.
Der bittere Geschmack ist wichtig, Ja das Bittere. Ein mehr oder weniger bitterer Geschmack, das unterscheidet sie von Süßigkeiten.
Sie kennen sich mit der Materie aus?
Das gehört dazu.
Ich hätte es nicht besser ausdrücken können. Mögen Sie Schokolade?
Jeder mag Schokolade.
Aber lieben Sie Schokolade?
Ja, muss man ja wohl schon, wenn man sie zum Beruf macht.
Welche beruflichen Erfahrungen haben Sie?
Meine Ausbildung, die habe ich mit 18 begonnen, aber vorher hatte ich… ja…
Wir sind bankrott! Fast bankrott.
Oh. Das ist blöd.
Und deshalb brauchen wir jemanden wie Sie.
Ah Ja? Wie mich?"

Bénoit Poelvoorde, der Belgier, der gerade in Dany Boons "Nichts zu verzollen" völlig überdreht einen Franzosenhasser spielt, verkörpert Jean René, den Chef der kleinen Schokoladenfabrik. Dass Poelvoorde auch die leiseren Töne beherrscht, beweist er in diesem schönen kleinen Film. Sein Jean René ist voller Ängste, Scham und Unsicherheiten, die er mit harschen, maskulinen Gesten zu überspielen versucht. Jean René ist ein Gefühlsmensch. Er stellt die schüchterne Angélique ein, die sehr viel mehr von Schokolade versteht, als sie zunächst zugibt. Gespielt wird sie von Isabelle Carré, bekannt u. a als "Schwangere" aus Francois Ozons "Rückkehr ans Meer". Beide spielen zwei sehr empfindsame Menschen, und beide vereint die Liebe zu ihrem Beruf ebenso wie ihre extreme Schüchternheit und die Unfähigkeit, Gefühle zu zeigen.

Im Französischen heißt der Film "Les émotifs anonymes", und "émotif" lässt sich am treffendsten mit "hochsensibel" übersetzen. Regisseur Jean Pierre Améris:

"In Frankreich fing alles mit dem Filmtitel an. «Les émotifs anonymes», also Selbsthilfegruppen von anonymen Hochsensiblen, die existieren wirklich. Das funktioniert nach demselben Prinzip wie bei den "Anonymen Alkoholikern". Nur dass es in diesem Fall um Menschen geht, die mit ihren überbordenden Emotionen nicht klarkommen. Für sie ist alles kompliziert. Ich selber nahm zwei Jahre an diesen Treffen teil. Als ich also meinem Produzenten diesen Film vorschlug, sagte ich, er wird "Die anonymen Hochsensiblen" heißen. Ich war dann überrascht, als der Film in den USA herauskam und jetzt in Deutschland, dass man das Wort "émotif" nur schwer übersetzen kann. Es scheint wohl ein wenig negativ besetzt oder krankhaft, wenn man von hochsensibel redet. Im Französischen bringt einen das Wort "émotif" eher zum Lächeln."

In Frankreich, wo die Dunkelziffer der sogenannten "Hochsensiblen" bei 30 Prozent liegen soll, hat der Film sehr gut funktioniert und lockte über eine Million Zuschauer ins Kino. Und wer kennt nicht dieses Gefühl, dumm vor der Angebeteten oder dem Angebeteten zu stehen, nicht den ersten Schritt zu wagen und sich später damit zu trösten, dass es ja ohnehin nie funktioniert hätte.

Genauso reagieren Jean René und Angélique, die sich längst ineinander verliebt haben, aber sich viel zu sehr gleichen. Das ist tragikomisch. So gibt es eine herrliche Kussszene, wo Jean René und Angélique nach dem Ausbruch der kurzen Leidenschaft einander sofort versichern, dass dies ihr erster und letzter Kuss gewesen sei. Dabei siezen sie sich unverdrossen und wagen dann doch den zweiten, letzten Kuss. Sie bleiben zunächst wieder Kollegen, gehen ganz in ihrer Arbeit auf und sind weit weniger schüchtern.

Regisseur Jean Pierre Améris erzählt, wie er seine eigene Schüchternheit überwand: "Der Film speist sich aus meiner Liebe zum Kino. Als Jugendlicher hatte ich viele Komplexe, weil ich fast zwei Meter groß bin. Meine Hochsensibilität kommt daher, dass ich mich immer zu groß finde. Ich weiß nie, wo ich mich hinstellen soll, ich würde am liebsten verschwinden, aber bei fast zwei Metern Körpergröße wird man immer gesehen und bekommt auch immer irgendwelche Bemerkungen zu hören. Als ein Jugendlicher voller Komplexe fand ich so im Kino Zuflucht. Für mich ist das Kino der Ort, wo ich am liebsten bin. Im Kinosaal wird es dunkel. Keiner sieht einen mehr, und man kann sich auf das Abenteuer auf der Leinwand konzentrieren. Das ist für mich immer noch eine große Freude, Zuschauer zu sein, dieses Kribbeln, wenn es dunkel wird. Der Film beginnt und man taucht in eine bestimmte Welt ein."

Jean Pierre Améris hat sich auch daran gewöhnt, vor Publikum zu stehen, über seinen Film zu reden oder Journalisten zu begegnen. "Die anonymen Romantiker" ist sein bisher persönlichster Film und seine einzige Komödie. Privat hat dieser Hochsensible sein Glück längst gefunden. Er lebt mit der deutsch-französischen Regisseurin Caroline Bottaro zusammen, die man auch in Deutschland durch ihren Film "Die Schachspielerin" kennt.

Als nächstes dreht Jean Pierre Améris mit dem Schwergewicht des französischen Kinos, Gérard Depardieu, und verfilmt in Prag den Roman von Victor Hugo "Der Mann der lacht". Mit dabei sein wird auch der Deutsche Ulrich Matthes. Jean Pierre Améris spricht voller Begeisterung über das neue Projekt. Viel und schnell reden, das kann er. So vermeidet er diese peinlichen, langen Pausen, mit denen er immer noch nicht gut umgehen kann.

Film: Die Anonymen Romantiker