Liebe als chemische Reaktion

17.09.2013
In seinem vierten Roman begleitet Jo Lendle seine Hauptfigur, den Zauberer Lambert, auf ein Kleinkunstfestival nach Montreal - ein Aufbruch in ein neues Leben. Anfangs gelingen dem Autor meisterliche Passagen, doch im Verlauf überlädt er den Roman mit überdrehten Erzählelementen.
Kein Bleiben in Osnabrück. Der Zauberer und Illusionist Lambert, Hauptfigur in Jo Lendles viertem Roman "Was wir Liebe nennen", hat nichts Dringenderes zu tun, als seine Stadt zu verlassen. Nächtens bricht er zu einer "dreitägigen Auszeit aus seinem Leben" auf und schlägt sich zu Fuß zum Flughafen durch. Nach Montreal ist er zu einem Kleinkunstfestival eingeladen, und die Reise bringt sein bisheriges Leben und vor allem seine Beziehung zu Andrea, einer Restauratorin, gehörig durcheinander. Lendles Romane greifen häufig auf dezent magische Mittel zurück, die das Erzählte in eine Art Schwebezustand versetzen. Das überzeugt oft, aber nicht immer, denn Lendle weiß fast zu genau, wie man ironische Akzente setzt, Leerstellen schafft, poetischen Glanz aufträgt und eine gefällige Atmosphäre schafft.

Um den Roman Fahrt aufnehmen zu lassen, sind nicht wenige Zu- und Unfälle nötig. So sitzt Lambert im Flugzeug neben Viola, die sich von Berufs wegen um die Überwachung der internationalen Flugsicherheit kümmert – was einhundertfünfzig Seiten später von Nutzen sein wird, um die sich sorgende Ehefrau in Osnabrück mit einer Falschmeldung zu beruhigen. Und als Lambert nach einer Notlandung im irischen Shannon endlich in Montreal anlangt, kollidiert er mit einem Pick-up, an dessen Steuer die sich mit der Erdgeschichte auseinandersetzende Paläobiologin Felicitas Touchburn sitzt. Jene – Fe genannte – Frau hat ein paar Exemplare der legendären Przewalski-Pferde im Schlepptau und möchte diese in der kanadischen Einöde auswildern. Wie jene Tiere die Freiheit schnuppern sollen, so scheint Lambert durch die Bekanntschaft mit Fe aus seinen alten Verpflichtungen ausbrechen zu wollen.

Alterunabhängiger Rausch erster Liebessignale
Jo Lendle beschreibt die Annäherung zweier Menschen. Er tut das anfangs mit einem leichten, bewusst naiv anmutenden Ton, der Sympathie weckt und Kitsch und Pathos meiden will. Solange er auf diesem Terrain bleibt und solange er davon ablässt, Liebesgefühle als chemische Reaktionen zu deuten, gelingen ihm meisterliche Passagen. Wie schön zum Beispiel ist es, wenn er sich an Andreas Augen erinnert ("… hatten diese Farbe leerer Weinflaschen, bei denen man nie wusste, ob sie ins grüne oder braune Altglas gehörten") oder wenn er den altersunabhängigen Rausch erster Liebessignale festhält: "Warum eigentlich war man erwachsen geworden, wenn einen schon solch eine Kindergartenberührung aus der Bahn warf?"

Leider vertraut Jo Lendle diesen Fertigkeiten zu wenig und überlädt seinen an sich charmanten Roman mit überdrehten Erzählelementen. Warum muss er Fe und Lambert in einen Raum mit Nachtfaltern führen, die alle "für sich" fliegen und doch "zusammen" gehören? Weshalb sehen wir ganz unmotiviert Violas Tochter Sascha seitenlang beim Zeichnen einer "Traumschule" zu? Je weiter der Roman voranschreitet, desto häufiger stehen solche mit Poesie aufgeladenen Miniaturen nebeneinander, die diese erstaunliche Liebe bild- und mundgerecht servieren. Und am Ende, als sich Lambert nicht zwischen Andrea und Fe entscheiden kann, nimmt seine Zerrissenheit sehr konkrete Formen an: Er sieht sich einem Doppelgänger gegenüber, und gemeinsam mit Fe und den stämmigen Pferden reiten die beiden streitsüchtigen Lamberts durch ein Skiparadies, dessen Piste den "schönen Namen Émotion" trägt.

Besprochen von Rainer Moritz

Jo Lendle: Was wir Liebe nennen. Roman
DVA, München 2013
250 Seiten, 19,99 Euro
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