Letzte Spuren, vergessene Gräber

Von Susanne von Schenck · 21.11.2007
Er ist nicht tot, er wird zurückkehren, das hofften viele Familien nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch der Angehörige blieb verschollen, sein Schicksal Jahrzehnte lang ungewiss. Erst vor 15 Jahren wurde zwischen der russischen Föderation und Deutschland das Kriegsgräberabkommen unterzeichnet, das die Suche nach Angehörigen in der ehemaligen Sowjetunion ermöglicht. Nun können Angehörige die Gräber der gefallenen Soldaten besuchen.
Langsam ruckelt der kleine Bus über die holprige Straße. Ab und zu ist ein buntbemaltes Holzhaus mit gepflegtem Garten zu sehen. Die Landschaft ist leicht hügelig. Die meisten weitläufigen Felder liegen brach und wechseln sich ab mit dichten Wäldern. Wir befinden uns in der Nähe von Rshew, circa 250 km nordwestlich von Moskau.

"Zur Einstimmung auf Rshew habe ich mal ein bisschen zusammengefasst, was wir an Informationen über die letzten Tage unseres Vaters besitzen. Es gibt also Fotos, es gibt alte Karten. Wir haben zum Beispiel die Originalkarte, die er 1942 hatte, mit der er um Rshew herum seine Bataillone einsetzte."

Eberhardt von Strotha aus München ist gemeinsam mit seinen beiden Schwestern, mit Neffen, Nichten und Großneffen auf der Suche nach dem Vater. Oberstleutnant Karl Adolf von Strotha fiel am 1. September 1942 in der Schlacht von Rshew - durch friendly fire, versehentlich von den eigenen Leuten erschossen.

"Sehr verehrte, gnädige Frau, am Donnerstag, den 3. September, standen wir mit tief betrübten Herz am Grabe unseres Regimentskommandeurs auf dem stillen Heldenfriedhof in Dubakino. Die Divisionskommandeure sprachen Worte des Dankes für alle Treue und Hingebung, mit der Ihr werter Gatte seinem Vaterland gedient hatte. Kränze wurden als sichtbares Zeichen dieses Dankes am Grabe niedergelegt. Ich hielt die Trauerfeier und stellte sie unter das Wort: ’Ich habe einen guten Kampf gekämpft, ich habe den Lauf vollendet, ich habe Glauben gehalten; hinfort ist mir beigelegt die Krone der Gerechtigkeit, welche mir der Herr an seinem Tage geben wird.’"

Nun sucht der Sohn seine Grabstätte. Eberhardt von Strotha war gerade fünf Jahre alt, als der Vater fiel. Er erinnert sich nur an ein kleines Fahrrad, das der Vater ihm einmal zu Weihnachten mitbrachte.

"Das ist ein echtes Defizit, wir wissen wenig über meinen Vater. Ich hab zwar Fotos, ich weiß, was er beruflich gemacht hat. Die Briefe sind alle sehr einheitlich, sie drehen sich nur um die Fragen, wie geht es der Familie zuhause, geht es ihr gut. Es wird relativ wenig von einem selbst geschrieben. Das durften sie auch nicht, sie durften auch nicht ihre eigenen Eindrücke und Gefühle, außer dass sie Sehnsucht haben nach Hause, und dass sie sich bedanken für irgendwelche Weihnachtspäcken oder Briefe, viel durften sie von sich nicht äußern."

Auch für seine Schwester Rosemarie Bloch ist der Vater bis heute ein Fremder. Sie war vierzehn Jahre alt, als die Nachricht von seinem Tod kam.

"Wir haben nicht nach ihm gefragt und meine Mutter hat auch nicht ihren Schmerz mit uns geteilt. Ich weiß, dass wir hinterher in der Garnisonskirche einen sehr schönen Gottesdienst hatten zur Erinnerung an meinen Vater, aber ich habe die ganze Zeit nur geweint."

Die Mutter brachte die fünfköpfige Familie allein durch die Kriegs- und Nachkriegsjahre. Über den Vater wurde kaum noch gesprochen.

Wahrscheinlich wäre Karl Adolf von Strotha bei der Enkelgeneration gänzlich in Vergessenheit geraten, würde nicht das Kriegsgräberabkommen zwischen Deutschland und der russischen Föderation von 1992 Reisen zu Grabstätten in die ehemalige Sowjetunion ermöglichen. Eberhardt von Strotha erkundigte sich beim Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge nach Details über den Verbleib seines Vaters. Er erhielt Kartenmaterial sowie den Hinweis auf eine mögliche Grabstätte und regte eine Familienreise an, eine Spurensuche. Die Orte, die auf der alten Karte noch eingezeichnet waren, existieren heute zum Teil nicht mehr. Nur mit Hilfe von Ortskundigen lassen sie sich wieder finden.

Angela Lebedew, eine Übersetzerin aus Moskau, begleitet die Gruppe.
Dubakino - das sind nur ein paar Hütten und verlassene Stallungen einer ehemaligen Kolchose. Aus den Fensteröffnungen und dem kaputten Dach wuchern Pflanzen. Am Ende des Feldweges hält der kleine Bus. Aus einem windschiefen Holzhäuschen kommt ein Mann in abgerissener Kleidung heraus, Zigarette im Mundwinkel. Er zeigt auf ein Feld hinter dem Haus.

"Ja, sagt er, hier sind überall Friedhöfe gewesen. Vor kurzem ist eine alte Dame gestorben, die die Verwundeten und Kranken noch gepflegt hat. Da, wo er jetzt mit seiner Mutter wohnt, hat früher ein Spital aus Stein gestanden."

Der ehemalige Friedhof: ein großes, weites Feld. Leise rauscht der Wind in den Silberpappeln, die am Rand stehen. Erika von Schenck blickt bewegt über die Stätte, an der ihr Vater Karl Adolf von Strotha seine letzte Ruhe gefunden hat.

"Ich bin dankbar, dass wir diese Reise haben machen können, dass wir an einer Stelle stehen, wo über 2000 Soldaten seinerzeit gefallen sind und beerdigt sind. Wir stehen an einem Baum, der damals schon da war, wir betrachten ein langes, großes Naturgebiet mit jungen und alten Bäumen, mit einer großen Wiese, über die der Wind rauscht. Und eigentlich ist es sehr still und tröstlich zu wissen, dass hier nun kein Lärm mehr ist und keine Gewalt herrscht. Hier sind noch zwei alte Hütten, die in kürzester Zeit vielleicht vergehen, und zwei Menschen leben hier noch, die auch demnächst wohl nicht mehr das Leben mit den Toten teilen werden."

Dass hier vor 65 Jahren eine der schwersten Schlachten des Zweiten Weltkriegs geschlagen wurde, kann sich Richard Bloch aus Bochum nicht mehr vorstellen. Der 18-Jährige ist der jüngste Reiseteilnehmer auf der Suche nach Karl-Adolf von Strotha, seinem Urgroßvater.

"Schwierig vorstellbar ist es schon, vor allem, man steht ja auch in diesem weiten Land und neben einem Vater und Großvater, die diskutieren, was das Ganze soll, ich meine, eigentlich ist es ja nicht nachzuvollziehen, wofür gekämpft wurde, wenn man in diesem Land steht. Aber trotzdem war es doch bewegend, wenn man auf diesem Fleck stand, wo 2000 Soldaten begraben wurden, ja, das bewegt einen schon."

Rshew an der Wolga verdankt seine große strategische Bedeutung im Zweiten Weltkrieg der günstigen geografischen Verkehrslage.

"Nord-Süd Richtung, Ost-West Richtung nach Moskau, der war eben wichtig für die Nachschübe beider Armeen. Es wurden mehrere Offensiven gestartet, insgesamt in einem Zeitraum von zweieinhalb Jahren fanden mehrere große Schlachten statt, allein 1941 und 1942 vier große Schlachten, bei denen zigtausend ums Leben kamen auf beiden Seiten. Der Winter kam dazu, für die Deutschen ganz erschwerte Bedingungen, weil die Winterausrüstung noch nicht da war, weil der deutsch Generalstab, Adolf Hitler, die haben die Härte des Winters total unterschätzt, die Zeitfolge, es kam ja zu Verzögerungen. Demzufolge waren die kämpfenden Einheiten ganz notdürftig mit Winterausrüstung bestückt."

Helmut Nickel arbeitet beim Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge und betreut dort auch den Bereich Mittelabschnitt Russland. Rshew, das sind nicht nur Schneestürme und Temperaturen bis 45 Grad im Winter, sondern auch glühende Hitze im Sommer, unendliche Mückenschwärme, Sümpfe.

"Hätte ich nur ein paar ordentliche Stiefel, ich wäre sehr glücklich. Hier ist man in der reinsten Mausefalle. Man muss immer wieder Gott danken, dass man so durchgekommen ist. Wie viele meiner Kameraden sind inzwischen gefallen. Neulich schlug eine Granate fünf Meter entfernt von mir ein. Einige Pferde tot, ich kam noch heil davon. Ja so geht es. Herzliche Grüße und alles Gute und wenn Ihr wieder mal was übrig habt, so schickt mir es per Feldpost. Euer Hubertus","

schreibt Hubertus von Ow-Wachendorf aus dem Kampfgebiet um Rshew. Sein jüngerer Bruder Sigurd ist ebenfalls nach Russland gereist - auf den Spuren des Bruders, der aus dem Krieg nicht mehr zurückkam.

Drei Großoffensiven führte die Rote Armee gegen die personell und materiell unterlegenen Verbände der Wehrmacht. Die Kämpfe forderten unvorstellbare Opfer auf beiden Seiten: auf deutscher Seite mindestens 80.000, auf sowjetischer Seite nach neuesten russischen Veröffentlichungen mehr als 500.000 Gefallene. Die wirklichen Zahlen liegen vermutlich höher.

""Ostern, 4. April 1943: Mein liebes Frauchen, nun bin ich doch immer mit meinen Gedanken bei Dir und meinen lieben Kindern. Du kannst Dir gar nicht vorstellen, was für ein Dreck und Schlamm bei uns ist. Man versinkt bis über die Knöchel im Dreck, man muß sehen, daß man die Stiefel mit sich bekommt, sonst bleiben sie unwiderruflich im Schlamm stecken. Man staunt selber nur so über sich selbst, daß man gesundheitlich noch so auf der Höhe ist. Sei gegrüßt und geküsst von Deinem lieben Mann Paul. Lebe wohl bis wir uns wieder sehen."

Zu einem Wiedersehen kam es nicht mehr. Paul Thamm starb am 8. Mai 1943 im Feldlazarett bei Rshew. Todesursache: Fleckfieber. Die Lebensbedingungen für seine arbeitsunfähige Ehefrau und die zwei Kinder zuhause verschlechterten sich.

"Sie war eine Seele von Mensch, sie hab ich ja kennengelernt, aber, den Papa eben nicht. Und die müssen sich so gut verstanden haben, die haben geheiratet aus Liebe."

Herwarth Thamm, Jahrgang 1941, war gerade zwei Jahre alt, als der Vater starb. Nur wenige Jahre nach dessen Tod folgt ein weiterer Einschnitt: Die Familie muss die niederschlesische Heimat verlassen. Auf einer alten Aufnahme ist Herwarth Thamm als kleiner Junge zu sehen, auf einer Sammelstelle beim Glatzer Finanzamt. Von dort aus geht es in Richtung Brandenburg.

"Hungersnot und frieren und so, dann kamen die kalten Winter, zwischen 1946 und 1950 war es besonders schlimm, kein Schuhwerk gehabt und nix, in Glatz, das war unsere Kreisstadt, da sind wir in Viehwagen verfrachtet worden und sind dann erstmal ins Ungewisse gefahren und dann kamen wir nach Brandenburg Kirchmöser, da waren damals Baracken für Fremdarbeiter, die waren ja mittlerweile leer."

Bis heute hat der gelernte Maurer den Verlust nicht verwunden. Auch seine Ehefrau Renate wird immer wieder damit konfrontiert.

"Im Alltag war es insoweit ein Thema, dass mein Mann es einfach nicht ertragen konnte, wenn andere einen Vater hatten und zum Friedhof gehen konnten und dort Abschied nehmen konnten. Und er konnte das nie und darunter hat er sehr gelitten. Es war für ihn auch ganz wichtig zu wissen, wo ist denn mein Vater, wo liegt denn mein Vater."

Doch das einstige Grab von Paul Thamm existiert nicht mehr. Möglicherweise liegen seine sterblichen Überreste an der Straße von Wjasma nach Smolensk: eine große Wiese, gesäumt von Bäumen. Herwarth Thamm ist am Ziel seiner Reise. Ein bewegender Moment für die Familie.

"Er lag an dieser Stelle und hat fürchterlich geweint, er musste die 64 Jahre irgendwo loslassen und musste sagen, ich bin hiermit zufrieden. Und er hat mir auch nachher gesagt, also, von meiner Seite aus muss der Vater nicht umgebettet werden. Wenn die Umbettung nicht zustande kommt, es ist so ein wunderschönes Fleckchen Erde, ich bin mehr als zufrieden. Und ich denke, mehr kann man nicht sagen."

Die Gräber von drei Millionen deutschen Soldaten des Zweiten Weltkriegs liegen in den Ländern des ehemaligen Ostblocks, vor allem in der ehemaligen Sowjetunion. Angehörige hatten jahrzehntelang so gut wie keine Möglichkeit, an die Orte zu reisen, an denen ihre Väter, Ehemänner, Söhne, Brüder, Verwandten oder Freunde umgekommen waren. "Gräber aus der Kampfzeit gibt es nicht", hieß es von offizieller sowjetischer Seite noch in den achtziger Jahren. Erst mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden, so Fritz Kirchmeier vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, Reisen zu den Grabanlagen möglich. Für viele Angehörige aus der Kriegsgeneration war das zu spät.

"Das Kriegsgräberabkommen mit der russischen Föderation ist von 1992. Das war die rechtliche Grundlage, auf der wir dann endlich in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion tätig werden konnten. Die ersten Schritte waren Umbettungen. Wir haben aufgrund unserer Unterlagen, die wir in Kassel haben, Bestattungsorte im ganzen Land versucht zu finden. Sofern wir die dann gefunden haben wurden die Soldaten exhumiert und nach Möglichkeit identifiziert. Der nächste Schritt war die Suche nach geeigneten Friedhofsstandorten, nach Gelände, wo wir Friedhöfe errichten könnten. Das war nicht immer einfach, weil die Bereitschaft in den Regionen der ehemaligen SU, Friedhöfe für die einstigen Okkupanten zu schaffen, war nicht überall entwickelt."

Aber es ist nicht leicht, die ehemaligen Gefallenen im heutigen Russland zu finden. Es gibt kaum noch Zeitzeugen, viele Friedhöfe existieren nicht mehr, sie wurden überbaut oder lassen sich nicht mehr lokalisieren. Denn die deutsche Wehrmacht beseitigte beim Rückzug häufig die Kreuze der Gefallenenfriedhöfe und ebnete die Flächen ein. Der Gegner sollte nichts über die deutschen Verluste erfahren. Vor allem in der Gegend um Rshew, so Helmut Nickel von Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge, ist wenig erhalten.

"Es gibt wenig geordnete Grablagen, weil aufgrund der andauernden Kämpfe kein vernünftig funktionierendes rückwärtiges System aufgebaut werden konnte, wie unter anderem auch das Bestattungswesen. Es gab wenig geordnete Friedhöfe von deutscher Seite aus. Es war alles mehr provisorisch angelegt, weil man die Hoffnung hegte, irgendwann auch große Sammelfriedhöfe zu schaffen von Seiten der Wehrmacht, um dort die Toten zusammenzufassen und dort dann zu bestatten wie wir es in anderen Gegenden haben wie in Sankt Petersburg oder auf der Krim."

In Rshew begannen die Bemühungen um einen Sammelfriedhof bereits 1996. Aber dass die einstigen Angreifer nun einen Platz für ihre Toten erhalten sollten, stieß, so Galina Chmilkowa aus Rshew, auf zahlreiche Widerstände.

"Das waren Feinde. Aber sie haben auch später gesagt, man darf die Toten ruhen lassen, man kann gegen die sterblichen Überreste nicht kämpfen."

Die Übersetzerin Angela Lebedew aus Moskau, die häufig nach Rshew kommt, hat noch eine andere Erklärung.

"Da, wo gekämpft wurde, beispielsweise in Stalingrad, da gab es praktisch keine Neinstimmen zum Bau des deutschen Friedhofes. Aber da, wo die Städte besetzt waren, beispielsweise Smolensk, Rshew oder Orel, da gab es Schwierigkeiten. Es gab sogar Widerstand seitens der Bevölkerung. Es gab welche, die Verständnis hatten: Die Toten liegen hier sowieso, die ruhen hier. Aber es gab Proteststimmen gegen die Zubettungen."

Deutsche Kriegsgräber in Russland sind auch heute, über sechzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, ein sensibles Thema. Und so war es ein langwieriger Prozess, bis in Rshew die ersten Umbettungen vorgenommen werden konnten, erzählt Fritz Kirchmeier vom Volksbund. Kurz nachdem 1999 endlich mit dem Bau des Friedhofs bei Rshew begonnen werden konnte, verfügten die russischen Behörden einen Baustopp.

"Dort wurde eine echte Propaganda gegen den deutschen Friedhof gemacht, die auch dann dazu führte, dass der Gouverneur einen Weiterbau, also wir hatten schon angefangen zu bauen, einen weiteren Ausbau des Friedhofs untersagte und vor allen Dingen auch die weitere Einbettung von deutschen Soldaten untersagte. Es hatte eine regelrechte Bewegung in Rshew gegeben. An deren Spitze hatte sich eine Duma Abgeordnete gestellt und für uns war über mehrere Jahre hinweg es nicht möglich, dort weiterzuarbeiten."

Die russische Erinnerungskultur und der Umgang mit Kriegstoten sind anders als in Deutschland. Unter Stalin war das Kollektiv alles, das Individuum zählte nicht. Und so finden sich in Russland neben monumentalen Kriegsdenkmälern allenfalls anonyme Massenfriedhöfe. Einzelne Grabstätten gibt es kaum. Viele Russen äußern nun ihr Missfallen, so Fritz Kirchmeier vom Volksbund, wenn den Gefallenen der ehemaligen Angreifer in ihrem Land mehr Aufmerksamkeit zuteil wird als den eigenen Toten.

"Überall, wo wir in Russland tätig werden, entsteht eine Situation, dass die Leute dort sich anschauen, was wir machen und wie wir die Friedhöfe anlegen, welche Mühe wir uns geben, möglichst viele Tote zu bergen. Und aus dieser Beobachtung resultiert die Frage, wie ist das eigentlich mit unseren eigenen Toten. Das heißt, durch unsere Arbeit, passiert es mitunter, das die regionale Administration von den eigenen Bürgern unter Druck gesetzt wird. Auch von daher gibt es manchmal Widerstände innerhalb der Administration gegen unsere Arbeit."

Erst nach einem Wechsel in der Stadtverwaltung von Rshew konnte der deutsche Soldatenfriedhof weitergebaut werden. Direkt daneben liegt nun auch ein russischer. Dessen Kosten trug zum Teil der Volksbund.

Ein großer Friedhof in der Nähe von Smolensk: Bewachsen mit zahlreichen Tannen und hohen Birken wirkt er fast wie ein lichter Wald, wären da nicht die weißen Kreuze in Dreierformation, die in unregelmäßigen Abständen auf dem Rasen stehen. Ein Weg führt vom Eingangstor ins Zentrum des Friedhofs. Dort sind auf einer Granitstele zahlreiche Namen eingraviert.

Ute Anickers Vater starb 1941 an einem doppelten Lungenschuss, wenige Monate nach ihrer Geburt. Seiner Frau schrieb er noch in Stenoschrift zwischen den Zeilen seines letzten Feldpostbriefes: "Ich freue mich auf die Geburt des Kindes. Hoffentlich wird es ein Mädchen, damit es nicht in den Krieg muss."

Ute Anicker legt einen Blumenstrauß an dem Gedenkstein nieder. Die pensionierte Lehrerin einer Erzieherfachschule in Hamburg hatte erst vor kurzem begonnen, sich mit dem Leben ihres Vaters zu beschäftigen. Angeregt wurde sie durch eine Reise nach St. Petersburg. Dort traf sie Deutsche, die die Gräber ihrer Angehörigen in Russland suchten. Ute Anicker stellte selbst einen Nachforschungsantrag beim Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge und erhielt bald Nachricht über ihren Vater.

Ihre heute 92-jährige Mutter hatte nach dem Krieg erneut geheiratet. Die Briefe ihres ersten Mannes hatte sie vernichtet. Die Tochter Ute wollte aber nicht an dessen Tod glauben.

"Das war die Zeit, wo auch die Spätheimkehrer kamen, als Adenauer die Verhandlungen in Moskau führte, um die letzten Kriegsgefangenen noch zu befreien. Und da kamen Leute aus unserem Dorf. Und ich war so vernarrt in diese Idee damals, da ist mein Vater dabei, dass ich jedes Mal auf dem Bahnhof stand, als die ankamen. Ich kannte ihn ja nicht, aber die paar Fotos, die es gab, hatte ich dermaßen studiert, und ich war so sicher, auch wenn er noch so abgemagert ist, ich würde ihn erkennen. Und ich bin auch heute noch sicher, ich hätte ihn erkannt. Bei all diesen Transporten war er nirgends dabei und irgendwann habe ich die Tatsache geschluckt, dass er doch wahrscheinlich tot sein wird, und dann hab ich mich nach und nach mit dieser Realität auseinandergesetzt."

Durch die Gespräche, die sie vor der Reise mit der Mutter führte, kam Ute Anicker ihrem Vater näher. Dessen Idealbild verblasste, der Vater bekam auf einmal menschliche Züge. Sie erfuhr auch, dass er Mitglied der nationalsozialistischen Partei gewesen war. Bis heute weiß seine Frau nicht, was an den Schulungswochenenden der NSDAP geschah, von denen er jedes Mal seelisch und körperlich restlos erschöpft zurückkehrte. "Halt dich da raus, was ich mache, reicht für uns zwei", hatte Eduard Anicker zu ihr gesagt.

"Der Gedanke, wie hätte ich damals gehandelt, wenn ich in dieser Situation gelebt hätte, wäre ich auch verführbar gewesen, ich vermute fast, ja. Und die Frage nach Zivilcourage, wer hatte sie, hätte ich sie gehabt oder nicht, das sind alles schon Fragen, die sich ganz intensiv stellen."

Und so wird die Spurensuche nach dem Vater für Ute Anicker auch zu einer Reise zu sich selbst. Nun steht sie auf dem großen Soldatenfriedhof bei Smolensk. Reihe 17, Grab 602 - dort sollen die sterblichen Überreste ihres Vaters liegen.

"So richtig realisiert habe ich das noch gar nicht, ich muss es mir zwischendurch ins Bewusstsein rufen, dass er hier jetzt liegt, also der Rest von ihm. In diesem Bericht von der Kriegsgräberfürsorge hat mir Frau Müller so einen Umbettungsbericht gegeben in Stichworten, und da steht: keine messbaren Knochen. Was heißt das? Das heißt wohl, das meiste von ihm ist ja wohl vergangen, ist ja auch normal, nach über sechzig Jahren, das heißt, es ist nicht mehr viel, es ist auch nur noch ein Symbol, was hier liegt."

Weil Eduard Anickers Gebeine gefunden wurden, konnten sie umgebettet werden. Sie liegen nun in einem 30 mal 70 Zentimeter großen Holzsarg.

"Wenn man umbetten kann, hat man schon halb gewonnen im Grunde","


so Helmut Nickel. Der Mitarbeiter vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge hat lange Zeit selbst Gefallene in Russland umgebettet.

""Es gibt Grabanlagen, da kommt man mit Technik nicht dran, da muss man mit der Hand arbeiten, also mit dem Spaten. Man muss wirklich das Grab ausheben bis zu zwei Meter Tiefe, über ein Meter Breite und zwei Meter Länge, eben wo man denkt, das ist eine normale Größe des Gefallenen und da kann man sich vorstellen, was man da für Erde bewegen muss. Und da muss man vorsichtig zu Werke gehen, weil man ja nicht weiß, in welcher Tiefe der Gefallene liegt. Man legt das Skelett frei. Sowie man die Relationen erkennt, ob man den Fußbereich, den Mittelbereich oder den Kopfbereich als erstes freigelegt hat, kann man sich schon ein Bild machen, wo die Erkennungsmarke liegen müsste. Wir gehen immer davon aus, dass sie im Brustbereich liegt."

Die Erkennungsmarken sind aber auch beliebte Trophäen. Auf dem internationalen Markt für Militaria lässt sich damit viel Geld verdienen. Für die Recherchen nach Gefallenen hat das verheerende Folgen, denn die kleine Metallscheibe hilft bei der Zuordnung.

"Was wir hier vor uns haben, sind halbe Erkennungsmarken. Wir können auch differenzieren zwischen oberer und unterer Hälfte der Erkennungsmarke. Leicht zu unterscheiden: Die obere Hälfte hat zwei Löcher, die untere ein Loch. Wenn der Soldat gefallen ist: Seine Kameraden brechen den unteren Teil ab, der geht zur Einheit, wird registriert und geht dann zur Wehrmachtsauskunftsstelle. Und der obere Teil mit zwei Löchern verbleibt beim Toten und im Grab. Und die dient dann der späteren Identifizierung."

In den russischen Wäldern liegen immer noch zahlreiche unbestattete Soldaten des Zweiten Weltkriegs. Von vielen sind die Spuren endgültig verwischt. Einige aber lassen sich verfolgen. Für viele Nachfahren ist es ein Trost, zu wissen, wo ihre Angehörigen ihre letzte Ruhestätte gefunden haben.

In der Nähe des Dorfes Krasnogwardeski ragen auf einer Wiese zwei große Kreuze in den Himmel. Eines stellten Ungarn auf, das andere der Volksbund auf Initiative eines ehemaligen Gefangenen, der in der Nähe des Dorfes unter Tage im Steinkohleabbau gearbeitet hatte. Die Kreuze stehen zum Gedenken an die Kriegsgefangenen des Ortes, wie Alexander Schaunikow erklärt. Er stammt aus Krasnogwardeski und erzählt:

"Es sind Kriegsgefangene gewesen. Die im Dorf haben die zum Bespiel die Schule und den Jugendclub gebaut. Lager hat es viele in der Umgebung gegeben, aber nach dem Krieg sind die Grablagen exhumiert und an diese Stelle gebracht worden: 106 Tote, darunter acht Ungarn. Negativ ist im Dorf niemand eingestellt. Aber es kommt auch keiner zu dem Kriegsgefangenenfriedhof."

Hildegard Wilhelmi, die aus Hamburg angereist ist, um das Grab ihres Vaters zu finden, stellt sich neben eines der Hochkreuze. Sie holt tief Atem. Die Zeilen, die sie dann vorträgt, fand sie im Nachlass ihrer Familie.

"Meine liebe Mutter, diesen Brief wirst Du lesen, wenn ich in der Erde, die mich unaufhörlich zu sich rief, mit den anderen Kameraden liegen werde. Meine liebe Mutter, diesen Sand musst du lieben, der mein Leben schlürfte, doch was gäbe ich, wenn ich deine Hand einmal nur, noch einmal streicheln dürfte. Eine kleine Wolke wird mich in das Land, für das ich sterbe, tragen. Meine liebe Mutter, diese Wolke wirst du dann am Himmel sehen, ruhig treiben, fromm und silbern wird sie über dem First unseres kleinen Hauses stehen bleiben."

Literaturtipp:

Boucsein, Heinrich: Halten oder Sterben
Berg am Starnberger See/Potsdam 1999

Großmann, Horst: Rshew. Eckpfeiler der Ostfront
Podzun-Pallas-Verlag, Friedberg

Kondratjew, Oleg A.: Die Schlacht von Rshew.
Ein halbes Jahrhundert Schweigen

München 2001