Letzte Ruhe auf der Millionenallee

Von Kirsten Serup-Bilfeldt · 03.07.2010
Einer der bekanntesten Friedhöfe Deutschlands feiert Jubiläum. Der Melatenfriedhof in Köln ist nicht nur letzte Ruhestätte für die Kölner Prominenz, sondern auch ein steinernes Archiv von 200 Jahren Stadtgeschichte.
Werner Schmidt: "Wer hat nicht des abends gehört 'Paul Temple und der Fall ...' Vor einiger Zeit hat der Deutschlandfunk die alle mal wiederholt. Da habe ich bei allen gesessen und mir die angehört. Herrlich, ganz herrlich."

Detlef Rick: "Meine Oma nahm zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit ihren Klosterfrau Melissengeist. 79-prozentig inwendig - meine Oma hat ja keinen Alkohol getrunken, aber nein ...! Und die Maria Clementine Martin stammte ursprünglich aus Brüssel - 1775 geboren - und ging mit 17 Jahren ins Kloster."

Maria Clementine Martin, die fromme Jungunternehmerin, auf deren Heilwasser Verschnupfte, Kopfwehgeplagte oder auch Opfer übermäßigen Alkoholgenusses bis heute schwören und die mit ihrem "Klosterfrau Melissengeist" ein pharmazeutisches Imperium gründete und der Schauspieler und Rundfunksprecher René Deltgen, dessen markante Hörspielstimme als Detektiv Paul Temple vor über 50 Jahren die halbe Bundesrepublik elektrisierte - sie lebten zu verschiedenen Zeiten in ganz unterschiedlichen Lebensumständen.

Und haben doch eines gemeinsam: Sie ruhen beide in derselben Erde - erzählen die Friedhofsexperten Werner Schmidt und Detlef Rick. Die Klosterfrau unter einem neogotischen, mit einem Kreuz geschmückten Sockel; der Schauspieler unter einem schlichten grauen Findling, der nur seinen Namenszug trägt. Auf dem Melatenfriedhof in Köln.

Es ist eine Oase der Ruhe. Kein Laut dringt vom Lärm der nahen Hauptverkehrsstraße über die hohen Mauern dieses altehrwürdigen Gottesackers. Zusammen mit Friedhof Berlin-Weißensee und dem in Hamburg-Ohlsdorf gehört "Melaten" wohl zu den berühmtesten Friedhöfen Deutschlands. Und das auch wegen der zahllosen Prominenten, die in seiner Erde ruhen:

Nicolaus August Otto, Erfinder des Viertaktmotors, der von den Nazis ermordete Radrennfahrer Albert Richter, die Familie Farina, Schöpfer des "Eau de Cologne", die Schauspieler Willy Birgel, Gunther Philipp und Gisela Uhlen, der Gewerkschafter Hans Böckler, der Dombaumeister Zwirner, die Schriftsteller Irmgard Keun, und Hans Günter Konsalik, der Politiker Hans-Jürgen Wischnewski, der Rennfahrer Rolf Stommelen, der Reichskanzler Wilhelm Marx, der Liederdichter Willy Ostermann, die "Zigeunerkönigin" Sophia Czory ... und ...

Uralte Bäume recken ihre mächtigen Zweige über die buchsbaum- und taxusgesäumten Alleen. Zwischen dichtem grünem Laub erheben sich wuchtige Findlinge, neogotische Stelen mit hoch aufragenden Kreuzen, Plastiken trauernder Jünglinge und lorbeerbekränzter Frauen und immer wieder Engelsfiguren. Obwohl, so sagt der evangelische Theologe, Buchautor und Friedhofsführer Detlef Rick, keineswegs alle geflügelten Figuren Engel seien:

"Engel sind nur diejenigen, die ein Kreuz in der Hand haben. Das andere sind Genien - Todesgenien oder Genien des Schlafes. Die Genien kann man daran erkennen, dass sie eine Fackel in der Hand halten. In zwei Richtungen kann die Fackel zu sehen sein: Einmal ist es so, dass der Todesgenius eine Fackel in der Hand hält, wo die Flamme nach unten zeigt. Sein Bruder, der Genius des Schlafes hält die Fackel nach oben, denn der Tod ist ja der Bruder des Schlafes ..."

Und doch ist der Melatenfriedhof nicht nur ein Ort des Todes, im Gegenteil: Er ist höchst lebendig. Denn Melaten mit seinen verwitterten Grabmälern und alten Bäumen erzählt Geschichten - in Stein gehauene Geschichten. Es sind Geschichten von Engeln und Hexen, von Reichtum und Armut, von Krieg und Seuchen, von Liebe und Tod. Hier leben kölsche Anekdoten und Prominentenklatsch, aber auch Kunst-, Sozial- und Stadtgeschichte. Vor allem aber leben hier Familiengeschichten.

Eine farbig bepflanzen Grabstätte, zu der vier Stufen hinaufführen. Eingemeißelt in den hellen Stein ist nur der Name: "Millowitsch":

Detlef Rick: "Und wenn Sie hinschauen, sehen Sie dort die Bepflanzung in Form eines sich schließenden Theatervorhangs. Die Millowitschs waren ursprünglich keine Schauspieler, sondern Stockpuppenspieler. Und das Schöne an diesem Grab ist, dass Sie jetzt durch die Stufen auch erkennen können, wer hier alles liegt, und zwar vier Generationen: Die janze Famillisch zesamme ..."

Als Willy Millowitsch hier im September 1999 zu Grabe getragen wird, kann Melaten schon auf eine 189-jährige, wechselvolle Geschichte zurückblicken. Offiziell - denn inoffiziell ist dieses Gelände, das nicht nur als Gräberfeld, sondern jahrhundertelang auch als eine Art Krankenstation galt, viel älter. Seit dem Hochmittelalter war es eine Anlaufstelle für Menschen, die, wie das heute noch in Köln heißt "malad", also "in schlechter Verfassung" waren.

Detlef Rick: "Also, erstmal: das Wort 'Melaten' kommt nicht vom französischen 'malade', sondern aus dem Lateinischen 'male habitus', denn 1180 gab es hier bereits das Melatenfeld und 1180 gab es hier noch keine Franzosen. 1245 hat Konrad von Hochstaden, der damalig Erzbischof, der auch den Grundstein gelegt hat für den Kölner Dom, eine kleine Kapelle geweiht und einige Häuser für leprakranke Menschen. Das heißt: 'Melaten' ist ein Fachbegriff für Leprosorien."

Das Gelände des Gutes Melaten ist schon lange vor der Einweihung des Friedhofs am 29. Juni 1810 ein Ort des Todes, auch des gewaltsamen Todes. Im Mittelalter befindet sich hier die öffentliche Hinrichtungsstätte der Stadt Köln. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts, zur Hochblüte des Hexenwahns, werden dort über 30 Frauen und Mädchen wegen Hexerei hingerichtet. Ansonsten begraben die Kölner ihre Toten auf einer Vielzahl kleiner Fried- und Kirchhöfe.

Das ändert sich bald nachdem 1794 die Franzosen ins Rheinland einmarschieren und auch in Köln mit eisernem Besen für Ordnung, Sauberkeit, Hygiene und - einen nachhaltigen Säkularisierungsprozess sorgen. 1804 erlässt Napoleon das "Décret sur les sépultures", das zum Ärger der Kölner Bürger Beerdigungen in Städten, Dörfern und geschlossenen Gebäuden verbietet. Vorbei die Zeit der Bestattung nahe am Altar: in Kirchen und auf Kirchhöfen. Allerdings geschieht das aus gutem Grund.

Werner Schmidt: "In Köln wurde berichtet, dass die Buben auf dem Kirchhof mit den Schädeln Fußball gespielt haben sollen. Aber das Dekret aus Frankreich war knallhart und man musste ab 1806 den Friedhof einrichten. Die Stadt hat auch ein großes Gelände gekauft ... und am 29. Juni vor 200 Jahren ist dann dieses Gelände eröffnet worden als Friedhof."

Wer nach Einweihung des Friedhofs der erste Mensch war, der dort seine ewige Ruhe fand, weiß heute niemand mehr. Der älteste Grabstein, eine Stele auf einem Steinsockel, ist jedoch erhalten. Er erhebt sich über der Ruhestätte zweier Kinder, die von einer Scharlachepidemie dahingerafft wurden:

Detlef Rick: "Das älteste Grab ist von Louis und Adolphe de Latte am Hauptweg: ein kleiner Obelisk aus dem Jahre 1811 ..."

"Die hochbetrübten Eltern setzen ihren Kindern dieses Denkmal des Schmerzes und der Liebe ..." steht, nur noch für Eingeweihte lesbar, auf dem verwitterten, grün bemoosten Stein. Als 1829, also knapp 20 Jahre nach Eröffnung des Melatenfriedhofs, dort der wohlhabende Weinhändler Johann Christian Rhodius zu Grabe getragen wird, kommt dieser Leichenzug einer kleinen Sensation gleich: Rhodius ist der erste Protestant, der auf Melaten beerdigt werden darf.

Werner Schmidt: "Zunächst war es so, dass nur die Katholiken hier bestattet wurden. Man war ja in Köln katholisch und mit den Protestanten hatte man es nicht so. Die mussten dann noch bis 1829 warten ..."

Bis dahin nämlich konnten sich die evangelischen Kölner nur auf Friedhöfen außerhalb der Stadtmauern begraben lassen.

Werner Schmidt: "Dann gehen wir jetzt ein Stückchen über die Millionenallee und gucken uns rechts und links diese protzigen Gräber an ..."

Die Millionenallee! So heißt im Volksmund die Mittelachse des Friedhofs. Denn hier reiht sich ein monumentales Grabmal ans nächste. Hier ruhen die Kölner - Bankiers, Fabrikanten, Honoratioren - die in prunkvollen Villen wohnten und sich nicht scheuten, ihren Reichtum zur Schau zu stellen. Im Leben wie im Tode.

Und so herrscht auf der Millionenallee ein pompöses, aber sehr individuell gestaltetes, buntes Durcheinander von Spätbarock, Biedermeier, Jugendstil, Neogotik und - besonders beliebt, sagt Werner Schmidt - Klassizismus:

"Man sieht also hier diesen Menschen zur Rechten, der sich offenbar verabschiedet und wo immer hingeht - in den Hades. An ihm hängt seine Frau, die sich noch klammert, seine Tochter und sein Sohn. Die Tochter hält noch die Hand vor dem Gesicht, also die typische Trauergeste, die wir aus der Antike kennen. Und wenn wir den Verstorbenen sehen, dann erinnert der uns an einen antiken Philosophen... Es ist das ideale Wandgrab."

Also eine in die Wand eingelassene Ruhestätte. Wie auch dieses Wandgrab werden die meisten Gräber auf diesem Feld im 19. Jahrhundert angelegt. Kunsthistorisch gesehen ist das die "Epoche der schönen Tode". In der Grabplastik löst der "Todesgenius" das alte, furchterregende, wurmzerfressene Skelett ab. Dieser Genius ist zumeist eine schöne, freiplastische Jünglingsfigur mit der gesenkten, verlöschenden Fackel in der einen Hand und der Mohnkapsel, die ihn als Genius des Schlafes ausweist, in der anderen.

Und doch gibt es eine - berühmte - Ausnahme aus dieser Zeit: den Sensenmann. Er ist das Wahrzeichen des Melatenfriedhofs, erschaffen im 19. Jahrhundert für die Kaufmannsfamilie Müllemeister.

Dieser Sensenmann - das ist die durchaus furchteinflößende Steinplastik eines Skeletts, das in die Reste eines Mantels gehüllt ist und in der rechten Hand die Sanduhr als Symbol für die verrinnende Zeit hält. In der linken hielt er ursprünglich die Sense, die aber von Friedhofsbesuchern immer wieder entwendet wurde. Besondere Witzbolde unter den Grabräubern stecken dem Gerippe bis heute auch schon mal einen Regenschirm oder eine Gießkanne in den leeren knöchernen Arm.

Die Grabstätte ist jetzt ein Patenschaftsgrab. Das bedeutet, dass Paten für Erhalt und Restaurierung solch alter, historischer Grabstätten sorgen und als Gegenleistung das Nutzungsrecht erhalten. So ließen die Paten des Sensemannes, eine Steinmetzfamilie, 1992 ihr früh verstorbenes Söhnchen dort bestatten. Da der Kleine den Kosenamen "Fröschlein" trug, liegt jetzt auf einem Stein vor der Gestalt des Knochenmannes ein Frosch, der sich sein Bäuchlein tätschelt.

Unzählige solcher Geschichten gibt es auf Melaten. Viele sind längst vergessen. Andere werden erzählt - bis heute. Wie die der Hochzeitsgesellschaft, bei der sich im Oktober 1944 über 100 Gäste zur Trauung in der kleinen Kapelle auf Melaten einfanden. Sie alle wurden Opfer einer britischen Fliegerbombe, die auf Melaten niederging.

Und dann gibt es eben noch die Geschichten, die im Lauf der Zeit in Vergessenheit geraten und auch nicht mehr aufzuklären sind. Es sind Geschichten von Menschen, die irgendwann in Köln gestrandet und dort gestorben sind. Zu ihnen gehört wohl auch der irische General George Wynne, der seit 1890 unter einem keltischen Sandsteinkreuz ruht.

Detlef Rick: "Da ist nichts rauszukriegen. Keine Ahnung. Es ist einfach nur ein irischer General, der wohl hier in Köln war. Vielleicht hat er ja en lecker kölsch Mädsche gehierot und nach alter irischer Tradition hat er sich dann hier das irische Kreuz aufstellen lassen. Ein Zeichen, dass er an seiner Heimat hing."

Und hier am Rhein vielleicht den Weg in die himmlische Heimat gefunden hat?

"Lebenshunger und Todessehnsucht, Eros und Thanatos - das sind die Antipoden, die unsere Existenz bestimmen. Nirgendwo wird das deutlicher als auf Friedhöfen ..." hat die Fotografin Isolde Ohlbaum einmal geschrieben. Und Detlef Rick notiert in seinem Buch über Melaten: "Friedhöfe sind keine Nekropole, keine Totenstädte, in denen die Finsternis des Nicht-Mehr-Seins im Mittelpunkt steht. Sie sind Stätten des Lebens, an denen wir der Toten gedenken ..."