"Letzte Nacht"

Rezensiert von Katharina Döbler · 07.04.2005
Die klassische Kurzgeschichte amerikanischer Prägung hat seit einigen Jahren wieder Konjunktur. Viele deutschsprachige Autoren versuchen sich an dieser kleinen, dem erzählerischen Realismus verpflichteten Form. Was allerdings wirkliche Könnerschaft auf diesem Gebiet bedeuten kann, erfährt man bei James Salter.
Der mittlerweile 80-Jährige entfaltet hier eine fast schon paradoxe Kunstfertigkeit: die Kürze seiner Erzählungen scheint in beinahe umgekehrter Proportion zu den darin enthaltenen Geschichten zu stehen. Andere amerikanische Autoren würden aus demselben Stoff dicke Romane zimmern.

Auch Salter allerdings hat, parallel zu den Erzählungen, immer Romane geschrieben. Vor allem die ersten davon, in denen er seine Erfahrungen als Kampfpilot im Koreakrieg verarbeitete, haben eine ersichtlich andere Textur als die impressionisischen Short Stories - die literarische Langstrecke ist nicht seine allerstärkste Seite. Salters Prosa entfaltet ihre Wirkung über Verknappung, über Pausen und die darin bei den Lesern aufkeimende Ahnung.
Seine Arbeitsweise dabei ist keineswegs der pure Reduktionismus. Vor allem bei den neuesten Erzählungen liegt das Erstaunliche weniger darin, was alles ungesagt bleibt - und das ist das enorm viel - , sondern mehr, was an Gesagtem übrig bleibt. Oft sind das alltägliche Äußerungen oder Einzelheiten am Rande, scheinbare Belanglosigkeiten, die plötzlich wie in einer Nahaufnahme scharf gestellt werden und die die Bedeutung einer Situation, einer Figur, manchmal sogar eines ganzen Lebens in sich aufzusaugen.

In der Erzählung "So viel Spaß" gehen drei Frauen nach einem gemeinsamen Essen in einem Restaurant noch auf einen Drink in eine Wohnung. Es braucht nur ein paar Gesprächsfetzen, Geplauder, hingeworfene Allgemeinplätze, um ziemlich viel über ihre Lebensumstände zu erfahren - dass sie mittleren Alters sind, gescheiterte Ehen hinter sich haben und wie die letzte Ehe auseinander ging. Dabei ist offenkundig, dass die Gespräche in ihrer gewollten Frivolität eine Wirklichkeit ausklammern, an die sie alle nicht rühren wollen. So weit, so banal. Doch erst als eine von ihnen auf dem Weg nach Hause im Taxi sitzt, wird diese Wirklichkeit offenbar und die Leserin fragt sich, warum, um Himmels willen, sie das während dieser seltsam belanglosen Partygeschichte andauernd geahnt hat.

Salter ist ein Meister darin, in gut gehenden Ehen und netten Unterhaltungen das Schiefe, das Verzweifelte, das Verräterische herauszufinden, die Existenz dessen, worüber nicht geredet wird und das jeder insgeheim versteht.

"Ihr Gesicht", denkt ein Mann beim gemeinsamen Abendessen mit seiner Frau, "war wie eine Serie von Fotos, von denen man einige hätte wegwerfen sollen. Heute Abend war das so."

Kleine bürgerliche Dramen sind das, nichts Weltbewegendes. Menschen reden, vergnügen sich, sehnen sich, machen Fehler, sterben. Salter sieht ihnen zu und hält hier einen Umriss fest, da eine Bewegung, hier eine Bemerkung, da einen Gegenstand. Mehr ist da nicht. Der Rest bleibt dem Leser überlassen.

James Salter Letzte Nacht
Erzählungen
Aus dem Amerikanischen von Malte Friedrich
Berlin Verlag, 2005
150 Seiten
18 Euro