Letzte Fahrt zurück ins Leben

Der befreite Todeszug von Bergen-Belsen

Eine Blume liegt auf einem Grab auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers in Bergen-Belsen (Niedersachsen)
Eine Blume liegt auf einem Grab auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers in Bergen-Belsen (Niedersachsen) © dpa / Peter Steffen
Von Sebastian Mantei  · 06.05.2016
Es gibt Geschichten von Holocaustüberlebenden, die kaum bekannt sind. Etwa die vom Todeszug aus dem KZ Bergen-Belsen, der im April 1945 in der Magdeburger Börde strandete. Sie wurden von amerikanischen Soldaten befreit. Sebastian Mantei hat mit einer Überlebenden aus dem Zug und einem Befreier gesprochen.
Es ist Mitte April 1945, ein Frühlingstag, die Sonne scheint am blauen Himmel und doch es ist Krieg. In der Ferne donnern Kanonen. Inmitten dieser kriegerischen Frühlingsidylle in der Magdeburger Börde kommt am 12. April ein Zug zum Stehen. Darin befinden sich Häftlinge – unter ihnen die zwölfjährige Sara Gottdiener. Sie gehört zum letzten Transport aus dem KZ Bergen-Belsen nach Theresienstadt.
"Das war ein langer Zug, Zweieinhalbtausend Menschen. Und wir fangen an zu fahren hin und her und wir sind angekommen in Farsleben. Und die Soldaten haben gebaten Zivilkleidung und wir sollen sagen, dass sie waren zu uns gut."
Die Wachleute fliehen und Sara ist auf einmal frei.
"Später habe ich gewollt laufen und schreien: Ich lebe, das war nicht eine gewöhnliche Sache, dass ein Kind bekommt sein Leben als Geschenk."
Ein Jahr zuvor hätte Sara nicht geglaubt, dass ihr dieser Höllenritt bevorsteht. Bis 1944 verlebt sie im ungarischen Debrecen eine friedliche Kindheit. Sie geht zur Schule und spielt ein Instrument.
"Wir waren nicht reich, aber meine Mutter hat mich geschickt, wenn ich sieben Jahr alt war Klavier zu spielen. Und die Lehrerin hat gesagt, dass ich bin sehr begabt. Aber Hitler hat das nicht gewusst."

Eine Reise ohne Wiederkehr

Mit der Besetzung Ungarns durch die deutsche Wehrmacht im März 1944 wird das Leben für die Juden schwierig. Auch wenn Deutschland diesen Krieg nicht mehr gewinnen wird, treibt Adolf Eichmann, Leiter des Judenreferats, die Vernichtung der ungarischen Juden persönlich voran. Für Saras Familie beginnt eine Reise ohne Wiederkehr durch Ghetto und KZs. Das elfjährige Mädchen erlebt Schreckliches.
"Wir müssen uns ausziehen. Das war ein Desinfektieranlage. Plötzlich bin ich mit paar hundert nackte Frauen, schwangere Frauen, Frauen mit Blut auf die Füße. Ich hab gar nicht verstanden. Ich war schockiert. Ich male sehr viel die schwangere Frauen. Da hat man selektiert."
Sara hat Glück, sie entkommt dem Tod und leistet Zwangsarbeit in der Landwirtschaft. Dann stirbt der Vater.
"Aber war dort ein SS-Offizier und meine Mutter hat gesagt, sie ist bereit, alles zu machen, und er hat verstanden, dass wir sind Menschen. Meine Mutter hat ihm gesagt, dass sie bei die jüdische Tradition müssen zehn jüdische Männer zu Kaddischgebet sein. Und er hat gebracht von andere Arbeitslager zehn jüdische Männer."
So erhält der Vater ein traditionelles Begräbnis mit dem jüdischen Totengebet durch die Hilfe eines SS-Mannes. Wird es bald besser werden fragt sie sich, doch es kommt anders. Sara muss wieder in einen Viehwaggon mit dem Ziel Bergen-Belsen.
"Die holländischen Juden waren unsere Nachbarn, die Anne Frank. Und sie sind gestorben wie die Flöhe. Und immer sie haben rausgebracht ihre Leichen, nackte Leichen und immer mit offene Mund und ich immer geguckt, was haben sie gewollt noch schreien, was haben sie gewollt noch beten. Aber Wir die Kinder haben gewettet, wer wird sterben morgen und wer übermorgen. Wir haben gekonnt schon sehen auf die Gesicht, wenn dieser Engel kommt besuchen."

Sara glaubt zu träumen

Im April 1945 rückt die Front immer näher. Doch Sara muss wieder in den Zug. Alle Hoffnung bald befreit zu sein, ist dahin. Auf der Fahrt nach Theresienstadt bleibt der Zug nach sechs Tagen in der Nähe des Bördedorfes Farsleben stehen. Die Wachleute fliehen und Sara glaubt zu träumen.
"Und ich hab reingekrochen zu die Zug und habe gedacht ich werde einschlafen und wecken von schlechten Traum. Nächste Tag wunderschöner Tag, 13. April und meine Schwester Edna und Magda sind gegangen hoch essen suchen und sie haben gleich gesehen eine Gruppe von Hitlerjugend. Sie waren sehr böse, dass die Bauern haben aufgehangt weiße Fahne. Sie haben zerstört die Fahne. Und nachher sind gekommen zwei amerikanische Panzer."
Es ist das Regiment von Frank Towers. Der 1917 geborene Amerikaner ist heute der letzte noch lebende Befreier des Zuges. Er lebt in Florida. Die Begegnung vom April 1945 ist ihm noch immer im Gedächtnis.
"Die erste Einheit die zum Zug vorstieß traf auf viele Menschen, die auf die Panzer zuliefen und sich für ihre Befreiung bedanken wollten. Unter ihnen war ein Mädchen. Sie sprach mit George Groß und Colonel Walsh dem Panzerkommandanten. George Groß war ein Jude und verstand ihr Jiddisch am besten."
"Meine Geschwister haben mit ihm jüdisch gesprochen und nach uns geführt, sie können glauben, die Soldaten waren schockiert. Wir haben nicht mehr ausgesehen wie Menschen. Mein Gewicht war 17 Kilogramm."

Die Soldaten sind überrascht und schockiert

Die US-Soldaten sind überrascht und schockiert. Keiner von ihnen ist auf diese Situation vorbereitet, inmitten in der Kampfzone diesen Zug von KZ-Häftlingen zu entdecken.
"Wir waren als Soldaten ausgebildet für den Krieg gegen Hitler. Und dieser Zug und was im Holocaust passierte kam für uns völlig überraschend. Wir haben nie etwas gehört von Bergen Belsen, Buchenwald, Dachau, Auschwitz - das waren fremde Orte für uns."
Die Soldaten evakuieren den Zug und bringen die Menschen aus der Gefechtszone in das nahe gelegene Hillersleben. Die Amerikaner bauen provisorische Duschen auf, damit sich die Menschen richtig waschen können.
"Für viele war es die erste Dusche, die sie seit zwei oder drei Jahren hatten. Sie versuchten sich natürlich so sauber wie möglich zu halten, mit den Mittel, die sie hatten. Aber das war für sie etwas wunderbares mit warmen Wasser und echter Seife zu duschen. Als sie aus der Dusche kamen behandelten wir sie mit DDT, um ihnen zu helfen ihr Ungeziefer loszuwerden. DDT war damals das beste Pestizid das es gab. High Tech Stuff."
Dann werden die meisten Befreiten in Hillersleben auf einem Gelände der SS einquartiert. Hier gibt es alles, erzählt Sara.
"Dort war ein Umgebung von SS Offizieren. Sie haben dort Urlaub gehabt. Dort war alles Käse, Wein. Wir haben ein Gabel, habe ich mit die Hakenkreuz. Sie waren feine Menschen die SS Offizier."
Doch die Menschen in Hillersleben wollen den ungebetenen Gästen nicht helfen, wie sich Frank Towers erinnert. Erst unter Androhung von Gewalt fügen sie sich.
"Nein natürlich waren die Menschen von Fallersleben und Hillersleben prodeutsch. Und sie wollten überhaupt nichts mit diesen schmutzigen stinkenden Juden zu tun haben. Der Panzerkommandant ging dann zum Bürgermeister und setzte ihm eine Pistole an den Kopf und sagte ihm, er solle seinen Leuten sagen, dass sie den Menschen helfen sollten."
Weiterreise in ein neues Leben
Bis zu Ihrer Weiterreise in ein neues Leben bleiben die meisten Überlebenden in dem Dorf bei Magdeburg. Einigen wird sogar angeboten, sich an den Deutschen zu rächen.
"Wir sind angekommen zu einen Gesperr, wo waren die deutschen Soldaten eingesperrt. Und hat man genommen mein Bruder Auf ein Bank gestellt, soll er schlagen die deutsche Soldat. Und er hat angefangen zu weinen, warum Ihr habt getötet meinen Vater."
Sara Gottdiener verlässt Hillersleben und wandert mit den überlebenden Familienmitgliedern nach Palästina aus. Dort heiratet sie Uri Atzmon und lebt bis heute in Kfar Sirkin in Israel. Ihre Erlebnisse zwischen Ghetto, Bergen-Belsen und Farsleben hat sie in unzähligen Bildern festgehalten, die weltweit ausgestellt werden - auch in den USA. Dort hatte Frank Towers vor einigen Jahren versucht die Überlebenden des KZ-Zuges wieder ausfindig zu machen und die Atzmons eingeladen. Für Sara war dies ein besonderes Wiedersehen mit echtem Happy End.
"Und wir sind gefahren nach Amerika und ich treffen diese Soldaten. Sie waren junge amerikanische Soldaten. Dann mit diese, mit Frank Tower, ich hab jetzt mit ihm Kontakt. Und wir haben ihn auch nach Israel geholt. Und das ist unglaublich. Und ich hab gewollt sie alle umarmen, weil sie haben uns das Leben geschenkt."
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