Lettland

Erst mit einem Namen fängt das Leben an

Riga Ghetto Museum des Vereins Shamir in Riga: Gründer und Leiter Rabbiner Dr. menachem Barkahan
Riga Ghetto Museum des Vereins Shamir: Gründer und Leiter Rabbiner Dr. menachem Barkahan © picture alliance / dpa / Foto: Robert B. Fishman
Von Robert Fishman  · 13.06.2014
Während des Zweiten Weltkrieges ermordeten die Nazis Zehntausende lettische Juden. Ein Rabbiner erinnert daran und baut das nach Warschau zweite europäische Ghetto-Museum mit einer Namenstafel von 70.000 Opfern.
Das Dachzimmer des alten Holzhauses ist mit Zeitungen aus den 20er- und 30er-Jahren tapeziert. Unter der Schräge steht eine abgewetzte Anrichte. Zwei weiße Spitzendeckchen und eine Teekanne verbreiten ein wenig Heimeligkeit. Durch die einfachen Fenster zieht der kalte Rigaer Winterwind. In der Ecke des kleinen Zimmers wartet eine mechanische Nähmaschine auf ihren Einsatz. Das offene Nähkästchen steht bereit. Das Ticken der Wanduhr scheint die Stille zu verstärken.
"Wir haben fotografiert, sie sehen, die Fotos vom Ghetto, alle Gebäude sind geblieben. In den Ghettogrenzen. Jeder hatte im Ghetto vier Quadratmeter. Dieses Gebäude haben wir gekauft und rekonstruiert…"
erklärt Rabbi Menachem Barkahan. Originalgetreu ließ er eines der Ghettohäuser auf dem Gelände des Ghettomuseums nachbauen:
"Ungefähr 30 Leute. 120 qm. Zwei Etagen. Dieses Gebäude war ungefähr 160 Jahre alt. Verbrannt, 90 Prozent alles neu, rekonstruiert. Aber wichtig: die Papiere wurden mitgenommen, einige Holzbretter können Sie sehen. 160 Jahre alt. Hier sehen Sie aufgeklebt... alte Zeitungen 1925 bis 39, auf Lettisch, da kann man stehen und die Geschichte in diesen Zeitungen lesen... haben gemacht, ein Modell, eine Wohnung im Ghetto. Im Ghetto waren arme Leute, reiche Leute, verschiedene... wie sieht das aus... ganz schön hier. Es zeigt, welche Sachen da waren. Jeder konnte einen Stuhl mitnehmen, ein Bett... eine Uhr."
Vor dem Fenster liegt die Ghettostraße. Ein mit groben Kopfsteinpflaster ausgelegter Weg hinter Stacheldraht.
Als die Nazis nach Riga kamen
"Nach 1918/20 nachdem Lettland seine Unabhängigkeit bekommen hat, sind viele Juden zurückgekommen. Und kurz vor dem Krieg waren in Lettland 93.000 Juden. 1940 haben die Sowjetrussen Lettland okkupiert und sind ungefähr ein Jahr da geblieben. Am 14. Juni 1941 war die Deportation, ungefähr 15.000 lettische Bürger; von denen waren 12 Prozent Juden. Und einige Wochen später sind die deutschen Nazis nach Riga, nach Lettland gekommen. Und in Lettland man hat ermordet ungefähr 70.000 Juden. Und dazu hat man ungefähr 25.000 weitere Juden nach Riga gebracht, um sie zu ermorden. Aus dem Westen: Deutschland, Österreich, Tschechoslowakei und Ungarn. Da der Platz heißt Rigas Ghetto-Straße. Ghettostraße, wir haben gesehen so ungefähr 100 Meter lang und wir haben gesehen die originalen Steine aus dem Ghetto. Auf den Steinen sind die Leute gegangen, spazieren, haben sich getroffen, sind gestorben, wurden erschossen..."
Die Pflastersteine sind original. Rabbi Barkahan ließ sie aus dem ehemaligen Ghetto holen, keine 500 Meter von seinem Museum entfernt. Den Weg säumen schlicht-weiße Tafeln mit den Namen der Ermordeten.
"Was haben wir gemacht. Wir haben raufgelegt die Namen der 70.000 lettischen Juden... da ist Plakat von einem jüdisch-lettischen Maler, Josef Koskowski und er hat das Weglaufen aus dem Ghetto Kaunas gemalt. Doch die Idee heißt: Wir werden leben. Und da sehen sie die Namen und die Leute. Da sehen sie die ganze Familie nach Alphabet und die Foto der Leute; sie sehen genau, wer sie sind und ihre Geschichte. Die Leute kommen und sagen: Herr Rabbiner, dankeschön. Sie haben einen Gedenkstein aufgebaut."
Im Ghetto-Museum sammeln Barkahan und seine Mitarbeiterin Olga Ajeksewa alte Fotos, Dokumente und letzte Gegenstände, die die Ghettobewohner bis zu ihrem Tod begleitet haben. Einen Stahlhelm hat jemand zum Kochtopf umfunktioniert. In den Boden hat er oder sie einen Davidstern gekratzt.
"Wir haben seine Lieder wiedergefunden"
"Alles was hier haben: rausbringen, zeigen. Kleines Foto wir konnten nicht mehr machen, da können wir sehen, den Widerstand im Ghetto. Das waren 42 jüdische Polizisten, die wurden erschossen am 21. Oktober 42 und da, sie behielten das Gewehr. Einer der Polizisten, der Anführer war Salomon Antokol, Ingenieur... und einer war Marianowski. Er war der Sohn von Marc Marianowski, der im Ghetto gestorben ist... und er hatte drei Söhne. Und einer überlebte. Marc Marianowski war Komponist... und vor dem Krieg war er der Tango-König von Riga. Marc Marianowski. Wir haben seine Lieder wiedergefunden, neue Partituren geschrieben und am 10. Mai vor zwei Jahren haben wir ein Konzert in seinem Namen gemacht und das haben seine Enkelkinder aus Amerika rausgebracht."
Barkahan sieht aus, wie das Muster eines Chadad-Lubawitscher Rabbi: Schwarzer Mantel, weißer Rauschebart, gütiger Blick. Jeden Dollar, jeden Lat und jeden Euro, den er auftreiben kann, steckt er in sein Museum. Fertig wird es nie. Rund eine Million Dollar hat der 66-Jährige schon investiert. Derzeit lässt er einen alten Pferdestall von 1860 zum Ausstellungsraum umbauen.
"Die waren im Holocaust in Buchenwald"
"Es ist nicht nur mein Geld, Spende… Letten, gute Freunde, Russen, verschiedene Stiftungen... wir machen spezielle Projekte... Ich weiß nicht, warum ich das mache. Die Familie, zwei Schwestern, mein Vater hat überlebt, gerettet in der Holocaust-Zeit, ein großes Wunder. Sein Bruder, er war Rabbiner, ist umgekommen mit seiner Familie. Wir haben das immer gehört. Über Holocaust. Genau von meiner Frau, die ist aus Ukraine, aus Mokatschewa, der Schwiegervater, meine Schwiegermutter, die waren im Holocaust in Buchenwald, in noch einem Lager... und haben überlebt. Ich bin ein orthodoxer Rabbiner, ich bin ein sowjetisch erzogener junger Mann, ich kann verstehen, ich bin israelischer Soldat, vor 40 Jahren bin ich nach Israel ausgewandert, ich kann verstehen, warum das wichtig ist. Wir müssen das machen alles, kleine Arbeit, kleine Projekte, große Projekte, alles was möglich ist... nur für ein Ziel. Das, was ist passiert, kann nicht wiederkommen.“
Seine Kraft und seine Orientierung bezieht Barkahan auch aus dem Glauben:
"Alle Dinge, die in der Welt passiert sind, was war, finden wir in der Tora. Zum Beispiel gab es vor einigen Jahren eine Diskussion, ob Russisch eine zweite offizielle Sprache sein soll. Ich spreche besser Russisch als Lettisch. Selbstverständlich besser Russisch als Deutsch. Ein schlechtes Deutsch bleibt immer ein gutes Jiddisch... Aber in der Tora steht geschrieben. Als die Juden aus Ägypten ausgewandert sind in die Wüste, haben sie nur drei Sachen behalten. Ihren Namen, Chaim blieb Chaim, Abraham blieb Abraham, ihre nationale Kleidung und ihre Sprache. Denn es war so. Gott hat dem kleinen Volk Lettland das Stück Land gegeben und die Sprache musst du behalten."
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