Lesart Spezial: Paranoia

Manfred Schneider und Guido Steinberg im Gespräch mit Claus Leggewie · 31.10.2010
Der Literaturwissenschaftler Manfred Schneider spricht über sein Buch "Das Attentat. Kritik der paranoischen Vernunft". Der Islamwissenschaftler Guido Steinberg stellt "Allahs Missionare. Ein Bericht aus der Schule des Heiligen Krieges" von Willi Germund vor.
Claus Leggewie: Guten Tag zu einer neuen Ausgabe von Lesart Spezial, heute aus dem Café Central im Schauspiel Essen, gemeinsam mit der Buchhandlung "Proust". Ich bin Claus Leggewie, Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen.

Heute haben wir eine ziemlich mörderische Sendung. Sie handelt von Attentaten und der Sehnsucht nach Sicherheit. Und den Anlass bietet uns ein wahn-sinniges Buch, ich hoffe, Sie haben den Bindestrich mitgehört, ein wahn-sinniges Buch von Manfred Schneider, das aus dem Wahn Sinn macht. Er ist Professor am Germanistischen Institut der Ruhr-Universität Bochum, Literatur- und Medienwissenschaftler von Rang. Und er hat mit seinen Studierenden und Mitarbeitern in den letzten Semestern zum Thema Attentat gearbeitet und daraus ein 760 Seiten starkes Buch gemacht, das den erklärungsbedürftigen Untertitel trägt: "Kritik der paranoischen Vernunft". Herzlich willkommen.

Manfred Schneider: Dankeschön.

Claus Leggewie: Unser zweiter Gast ist Guido Steinberg. Er ist Islamwissenschaftler in der politiknahen Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, eine wunderbare Villa in Berlin-Wilmersdorf. Dort berät man unter anderem die Bundesregierung. Und er war auch bis 2005 im Bundeskanzleramt Terrorismusreferent. Und er ist ein ausgewiesener Experte zum islamistischen Terrorismus und zur Politik im Nahen und Mittleren Osten.

Er hat ein Buch mitgebracht, über das wir auch reden wollen, von Willi Germund: "Allahs Missionare – Ein Bericht aus der Schule des Heiligen Krieges". Und das ist ein Buch, was in gewisser Weise ja auch zum Thema Attentat passt.

Beginnen möchten wir jetzt aber mit dem Buch "Das Attentat", das ich für ein politisches Buch halte, auch wenn es ein Literaturwissenschaftler geschrieben hat, und möglicherweise für das politische Buch der Saison. Herr Schneider, Sie haben, um einmal zu erzählen, was Geistes- und Kulturwissenschaftler so tun, zu so schönen Themen gearbeitet wie der Nörgelei, der Schaulust, der Autobiografie, der Endzeitstimmung, dem Geständnis, dem Eid. Das sind Themen, die Sie in den letzten Jahren und Jahrzehnten umgetrieben haben. Was hat Sie jetzt an der Paranoia interessiert? Und seit wann macht das eigentlich ein Literaturwissenschaftler und nicht ein Psychiater?

Manfred Schneider: Ja, die Paranoia, das ist ja meine Erkenntnis, wohnt in uns allen. Und wir alle partizipieren an ihr – positiv und negativ. Und ich habe sie zum Erkenntnisgegenstand gemacht, an mir selber, an meinen Nächsten, an meinen Freunden und dann eben auch an der Politik. Und tatsächlich gehört dieses psychologische Thema auch in eine Reihe von psychologischen Fragestellungen, die ich auch schon früher entwickelt habe. Mich interessieren Leute, die für Unordnung in der Gesellschaft sorgen. Ich habe früher ein Buch über Revolutionäre geschrieben. Ich habe mich für Barbaren interessiert. Und die Attentäter bilden nun also auch eine Klasse von Störern und Unruhestiftern, die mich interessieren.

Claus Leggewie: Haben wir mal eine Arbeitsdefinition, was Paranoia eigentlich ist – sozusagen klinisch?

Manfred Schneider: Ja, die Paranoia hat ja Eingang in die Alltagssprache gefunden. Sie ist ja häufig ein Synonym für übertriebene Angst, Ängstlichkeit. Die Klinik spricht von Paranoia seit dem 19. Jahrhundert, seit Kahlbaum diesen Begriff eingeführt hat in die Psychiatrie. Psychiatrisch heute spricht man weniger von Paranoia, sondern die paranoischen Symptome hat man in den Kreis der Symptome der Schizophrenie verfrachtet. Aber es gibt durchaus noch interessante und sehr moderne Psychiater, die sich mit dieser Paranoia auseinandersetzen. Und um einen Aspekt dieser Forschung zu erwähnen, dass die Paranoia eben kein abgegrenztes klinisches Phänomen ist, sondern dass eben alle in unterschiedlicher Intensität an dieser Paranoia partizipieren.

Claus Leggewie: Landläufig sagt man ja "Verfolgungswahn", Leute, die eine Verschwörung wittern, die finden "Alle sind gegen mich". Sie sagen ja, Sie umschreiben den Begriff ja mit zwei anderen Begriffen, nämlich "artifizielle Deutung", "künstliche, artifizielle Deutung" und "Fatums-Gewissheit". Das sind ja, glaube ich, zwei zentrale Aspekte, wie Sie die Paranoia definieren. Können Sie uns die beiden Begriffe vorab etwas erläutern?

Manfred Schneider: Mit dem ersten Begriff spreche ich eben ein bisschen aus der Küche der Literaturwissenschaft – artifizielle Interpretation. Natürlich ist die Literatur, Literaturwissenschaft das Geschäft der Interpretation, der Deutung. Und sinnvolle, richtige, gute, schlechte Deutungen zu unterscheiden, das ist gewissermaßen mein pädagogisches Gewerbe. Artifizielle Deutung heißt: Der Paranoiker ist eben keine unbedingt klinische Figur, sondern ist jemand, der Zeichen, Zeichenserien, Symptome, Dinge, die er sieht, die er sich vielleicht auch nur einbildet, die er liest, deutet, was für ihn dann ein kohärentes Ganzes bildet. Paranoia ist eben, der Paranoiker ist intelligent, häufig sogar in einem extremen Maße intelligent. Aber diese Intelligenz ist eine Art von Interpretationsüberschuss.

Und artifizielle Deutung heißt eben, dass der Paranoiker gerne seine Zeichen so liest, dass er sie auf einen Grund, auf eine Ursache bringt. Alle Weltverhängnisse, alle Übel, die ihn selber betreffen oder die die Gesellschaft betreffen, erklärt er aus einer Ursache. Das ist also die artifizielle Deutung.

Der andere Aspekt, die Fatums-Gewissheit, ist die, dass eben – da geraten wir schon ein bisschen ins klinische Feld -, dass der Paranoiker das Gefühl hat, dass er die Mission hat, entweder nur diese Dinge aufzudecken, zu erklären, der Welt deutlich zu machen oder aber eben selber tätig zu werden. Und dies in dem Sinne, dass er eben auch glaubt, gesandt, geschickt zu sein, die Mission zu haben seines Volkes, durch Gott oder sonst einer Größe, dieses Übel mit Einsatz seiner eigenen Kraft, gegebenenfalls seines Lebens zu beseitigen.

Claus Leggewie: Und dann gegebenenfalls zum Attentäter werden kann. Das ist ja der Obertitel des Buches. Was ist daran vernünftig? Sie schreiben ja "eine Kritik der paranoischen Vernunft" und nicht eine Kritik des Wahnsinns.

Manfred Schneider: Ja, ich versuche eben die Paranoia als eine Form der Vernunft zu beschreiben, weil die Paranoiker, auch die klinischen Paranoiker, die großen Fälle, die man kennt, eben nicht wahnsinnig waren in dem Sinne, dass sie eben keine klare Weltwahrnehmung mehr hatten, dass sie nicht mehr kommunizieren konnten und dergleichen oder eben einfach, sagen wir es mal populär, einfach blöd waren. Sondern die Paranoiker sind eben extrem intelligente Leute, in denen, man könnte sagen, die Vernunft ihr Geschäft übertreibt, indem sie halt Ereignisse, Phänomene, Zeichen, die sie aufnimmt, im Sinne eines gewaltigen Verhängnisses, das droht oder das schon eingetreten ist, deutet.

Und man kann natürlich sagen, dass es auch Gefahren in der Welt gibt und dass derjenige, der sie rechtzeitig ahnt oder wahrnimmt, unter Umständen auch ein außerordentlich geeigneter Prophet sein kann. Natürlich, es gibt diese Gabe. Ruth Klüger, die Frau, die über ihre Erlebnisse in Auschwitz berichtet hat, erzählt, dass ihre eigene Mutter Paranoikerin war. Aber gerade diese Fähigkeit, immer das Allerschlimmste anzunehmen, hat sie unter diesen Umständen in Auschwitz gerettet.

Claus Leggewie: Wir machen das jetzt mal an einigen Beispielen klar und wir nehmen uns Attentate vor. Herr Steinberg, Sie haben das Buch gelesen. Was war denn Ihr Lieblingsattentat?

Guido Steinberg: Ich hab's schon aufgeschlagen, Seite 243. Das ist das Attentat an Jean Paul Marat am 13. Juli 1793, die Täterin damals Charlotte Corday. Warum mein "Lieblingsattentat"? Weil hier so deutlich wird, was Herr Schneider in dem ganzen Buch ja immer wieder betont, dass eben die Paranoia nicht nur auf den Täter beschränkt ist, sondern oft auch auf die Opfer. Am Anfang bezieht er das vor allem auf europäische, westliche Regierungen. Da ist es sehr, sehr politisch. Aber ich denke, an diesem einen Attentat wird dieser Gedanke ganz besonders deutlich. Wir haben auf der einen Seite eben Jean Paul Marat, also eine der etwas unerfreulicheren Figuren der Französischen Revolution, die ja an unerfreulichen Figuren nicht ganz arm ist, und auf der anderen Seite eben Charlotte Corday, die so ungeheuer darauf fixiert ist, gerade diesen Mann zu ermorden, den sie eben für die personifizierte Gefahr dieser Revolution hält. Das ist mein absolutes Lieblingsattentat in diesem Buch.

Claus Leggewie: Haben Sie noch ein anderes, was hier nicht im Buch vorkommt?

Guido Steinberg: Ja, es ist eins, was nicht beschrieben wird. Das ist natürlich der 11. September 2001. Das wird mir persönlich immer wieder klar, wenn ich mich in Washington aufhalte. Das war ein, so furchtbar es war, geniales Attentat, bei dem getroffen werden sollten: das wirtschaftliche Zentrum der Weltmacht, das politische Zentrum und das militärische Zentrum – das durch eine im Grunde ganz, ganz kleine zusammengewürfelte Gruppe von mehr oder weniger jungen Leuten in Afghanistan. Das ist sicherlich das Attentat der Weltgeschichte.

Claus Leggewie: Es kommt ja auch im Buch vor. Es heißt dort der "Ikonoklasmus der Türme". Da können wir vielleicht noch etwas dran erklären, was jetzt eigentlich sozusagen die andere Seite betrifft. Es ist ja hochinteressant, über Attentäter und deren Motive nachzudenken. An dem Buch finde ich so schön, dass das gewissermaßen ein Spiegel der Gesellschaft ist, in dem die Attentate stattfinden. Und Sie haben es ja gerade schon am Beispiel von Marat gesagt, der eben ein Wahnsinniger in diesem Sinne war und dem im Grunde genommen durch eine eher rationale Tat in dem Sinne gewissermaßen in den Arm gefallen wird.

Der Ikonoklasmus der Türme führt uns dazu, dass auch das Bild, die Inszenierung, das Theatrale an modernen Gesellschaften etwas ist, was die Paranoiker sehr interessiert. Diese beiden Türme, die da im September 2001 getroffen wurden, welche Rolle spielen die in Ihrem Buch?

Manfred Schneider: Ja, wir brauchen ja nur unser eigenes Gedächtnis zu befragen. Dann sind die Bilder dieser Jets, die in die Türme fliegen, das, was sich als allererstes einstellt als Erinnerung, als Bild. Und die Gewalt dieses Bildes ist selbstverständlich eines der Hauptziele dieses Attentats gewesen. Die vielen Menschenopfer, die zu beklagen waren und natürlich zu den furchtbaren Umständen dieses Attentats gehören, sind in unserem Gedächtnis auch vorhanden, aber sie haben nicht diese bildhafte Kraft. Das ist gewissermaßen abstrakt, diese große Zahl von Opfern.

Und in der Tat ist natürlich dieses Attentat von vornherein kalkuliert und inszeniert gewesen im Hinblick auf diesen gewaltigen Bildeffekt. Von da aus her schreibt sich die Geschichte zurück, schreibt sich aber vorwärts, dass wir wissen und sehen können, dass selbst zu einer Zeit, als es eben noch nicht Internetmedien, Fernsehen und dergleichen gegeben hat, für Attentäter das Bild, das die Politik darstellt, das waren die Machtbilder, die Bilder der Mächtigen, so wie sie auftreten oder wie sie dargestellt werden in Bildern und Karikaturen, dass das das eigentliche Ziel ist der Gewalttat, dieses Bild, das eben entweder verhasst ist oder übel, das sie eben als falsch bezeichnen, dass sie dieses Bild ausräumen.

Dabei wird eben deutlich, dass für uns das Politische eben auch in so wesentlichen Zügen aus diesem Bildlichen, aus dem Theatralischen, aus dem Inszenatorischen besteht, dass wir diese Bilder befragen im Hinblick darauf: Funktioniert diese Politik? Sind die Politiker ehrlich oder spielen sich möglicherweise bestimmte Dinge im Hintergrund ab? Diese theatralische Seite des Politischen ist für den Attentäter eben grundfalsch. Und deswegen attackiert er diese Bilder.

Claus Leggewie: Das Buch macht ja einen großen Bogen. Es geht los bei der antiken Urszene – Brutus ermordet Caesar, den für ihn Tyrannen, den er beseitigen will. Es geht dann in die Neuzeit rein, die ganzen Caesar-Bearbeitungen, sowohl die literarischen als auch gewissermaßen die Imitationen dieser Tat, Französische Revolution nennen Sie, glaube ich, "die Großübung, die paranoische Großübung", geht dann bis in die Gegenwart zu den Gottspielern, also den school-shootern, den den meisten von uns ja gar nicht namentlich Bekannten, und den Terroristen, über die Herr Steinberg schon gesprochen hat, den Selbstmordattentätern.

Was verbindet all diese Dinge über diese 2000 Jahre hinweg? Herr Steinberg, was verbindet diese einzelnen Attentate, die ja sehr unterschiedliche Motive, sehr unterschiedliche Ziele hatten? Was ist das Verbindende?

Guido Steinberg: Nun also, was die Täter im Buch, also all diejenigen, die ausführlich besprochen werden, verbindet, ist, dass es Einzeltäter sind. Das ist natürlich das, was das Buch zum einen sehr aktuell macht, zum anderen aber die Bindung an die Terrorismusforschung im Grunde in den Hintergrund treten lässt. Und deswegen sagte ich auch eben, dass der 11. September im Grunde nicht behandelt ist, nicht in der Form, wie all die anderen Attentate von Einzeltätern.

Was die verbindet, ist halt eben in der Darstellung hier des Buches, dass sie ganz bestimmte – deswegen ja auch der Untertitel "Die Kritik der paranoischen Vernunft" – Merkmale der Paranoia, wie hier von Herrn Schneider definiert, teilen. Sie wollen Bilder stürmen. Sie wollen den eigenen Namen unsterblich machen, all diese Aspekte, die da genannt werden, die dann aber wiederum auch nicht nur auf die Einzeltäter zutreffen, die dann auch wieder auf diejenigen Attentäter zutreffen, die dann gegebenenfalls im Rahmen größerer Organisationen auftreten.

Claus Leggewie: Es gibt sozusagen in dem Buch drei Zuständigkeiten. Die literaturwissenschaftliche haben wir schon erklärt. Das müssten wir vielleicht noch etwas verdeutlichen. Attentäter sind Leser, teilweise fanatische Leser.

Manfred Schneider: Ja, das Erstaunliche daran ist, dass das Shakespeares "Julius Caesar" schon erkannt hat. Man findet das also in diesem frühen Attentatsdrama, dass Caesar den Mitverschwörer von Brutus, Cassius, als Typus identifiziert und feststellt, dass es ein Fanatiker ist, nämlich der wenig redet, der wenig isst und ein fanatischer Leser ist. Und man könnte sagen, dieses frühe Profiling lässt sich tatsächlich bei vielen Attentätern wiederfinden. Man kann das natürlich psychologisch erklären, dass Attentäter häufig introvertierte Leute sind, die weniger kommunizieren als andere.

Das ist sozusagen der Lesertypus, der ein besonders reiches Innenleben hat, die auch aufgrund des Lesens, das könnte man eben auch sagen, ein Phänomen der Moderne, bestimmte starke moralische Empfindungen entwickelt haben, sozusagen in der dauernden Auseinandersetzung mit dem Unrecht in der Welt. Und schließlich sind sie eben Leser in dem Sinne, wie ich das von der Paranoia sage, nicht wahr. Die sind Zeichenlehrer, die Zeichen in einer bestimmten Weise zusammenreimen, aus ihnen sich sozusagen einen Sinn konstruieren. Und der Sinn ist dann im Grunde genommen das, was ihre Mission ausmacht.

Natürlich, die Al Kaida-Attentäter, die lange durch muslimische Geistliche angeleitet werden, sind auch Leser. Sie werden eben auch in ein bestimmtes Lesetraining gebracht, um den Grad von Entschlossenheit und Konzentration auf diese Aktionen selber hervorzubringen. Auch das ist ein Effekt von Lektüre und von bestimmten Lektüreverfahren.

Claus Leggewie: Vielleicht können wir an der Stelle jetzt anschließen, auf das zweite Buch kommen, das Sie ja beide gelesen haben: "Allahs Missionare – Ein Bericht aus der Schule des Heiligen Krieges". Das ist jetzt ein ganz anderes Buch. Es ist das Buch eines Journalisten, der nach Pakistan, Indien, Afghanistan gefahren ist, dort eine Reportage macht. Können Sie es uns vorstellen, Herr Steinberg?

Guido Steinberg: Ja, es ist tatsächlich ein ganz, ganz anderes Buch. Und zwar ist das das Buch eines Asienkorrespondenten verschiedener deutscher Zeitungen, der uns mitnimmt auf eine sehr, wie ich finde, sehr, sehr lehrreiche, sehr schöne Reise durch den südasiatischen Islamismus. Wir haben Kapitel in Afghanistan, in Pakistan, in Indien, wo er tatsächlich einerseits mit sehr, sehr prominenten islamistischen Führern zusammentrifft. Es sind dann aber eben auch, und das ist auch hier mein Lieblingskapitel in diesem Buch, es sind dann auch Leute aus dem Fußvolk vertreten.

Er beschreibt zum Beispiel hier ein Treffen mit einem Talib, der mit 14 Jahren sich schon bereit erklärte, nachdem er an einer Koranschule in den Paschtunen-Gebieten studiert hatte, sich bereit erklärte, Selbstmordattentate zu verüben und/oder am Aufstand der Taliban in Afghanistan teilzunehmen, der dann allerdings in Islamabad arbeitete, wo der Autor ihn dann getroffen hat. Und das ist im Grunde eine Aneinanderreihung von teilweise sehr, sehr schönen, sehr aufschlussreichen, sehr tiefen Reportagen.

Wo das Buch schwächer ist, das ist da, wo der Autor versucht, einen roten Faden zu finden. Und er versucht diesen roten Faden zu finden in der Beschreibung einer islamischen Reformbewegung, der Schule von Deoband, gegründet im nordindischen Deoband, das ist etwas nördlich von Delhi, in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Und er beschreibt diese Schule von Deoband, der tatsächlich alle oder fast alle diese Einzelpersonen, mit denen er geredet hat, angehören, als die große Gefahr für den Frieden in Indien, Pakistan und in Afghanistan in den nächsten Jahren. Und, wie ich finde, das ist der Punkt, wo er tatsächlich scheitert.

Erstens bewertet er den Einfluss dieser Bewegung über, die tatsächlich in einem Land wie Pakistan vor allem unter den Paschtunen sehr, sehr stark vertreten ist und seit den 80er-Jahren tatsächlich Einfluss entwickelt hat. Die Taliban, die ja eine paschtunische Bewegung sind, sind ein Teil dieser Bewegung von Deoband. Wenn man sich allerdings den Islam in Pakistan und auch den Islamismus in Pakistan anschaut, dann trägt dieser Erklärungsansatz nicht.

Der zweite Punkt ist, dass er auch die Komplexität dieser Bewegung an sich nicht erfasst. Sie ist gefährlich. Sie hat militante Ausprägungen wie die Taliban. Aber sie hat eben auch andere Ausprägungen, wie zum Beispiel die Predigerbewegung, die Tablighi Jamaat, die er hier an einigen Stellen mit den militanten Islamisten in einen Topf wirft, was ich für falsch halte. Und dann gibt es tatsächlich eine ganze Menge von sachlichen Fehlern, die darauf hinweisen, dass er sich dann eben doch nicht in der nötigen Tiefe mit diesem Thema befasst hat.

Zum Beispiel ist eben einer der wichtigsten Belege, die er immer anführt dafür, dass die Deobandi-Bewegung so gefährlich ist, das ist eine Organisation, die heißt Laschkar e-Taiba, die Armee der Reinen, die auch verantwortlich war für das große Attentat in Mumbai im November 2008. Und da hat der Autor ganz einfach sich zu wenig theoretisch mit seinem Thema befasst. Nichtsdestotrotz ein sehr, sehr lesenswertes Buch, sehr schön für jeden, der sich mit dem Thema Pakistan befassen will.

Claus Leggewie: Herr Schneider, Sie haben das Buch ja auch gelesen – mit Ihrer Brille sozusagen. Wenn Sie jetzt auf die jungen Leute, die dort ausgebildet werden, wenn Sie auf die noch mal einen Blick durch Ihre Brille werfen.

Manfred Schneider: Ja, ich wollte zunächst noch eine Bemerkung machen. Das knüpft im Grunde genommen an das an, was Herr Steinberg sagt. Aus der Sicht der Paranoia-Forschung ist es natürlich genau die Struktur dieses Buches, die da in Deoband sozusagen den Ursprung, die Quelle aller dieser Übel sieht, genau nach dieser paranoischen Struktur gedacht und argumentiert. Und das kann man auch sehen.

Wenn wir diesem Blick folgen, Germund erklärt ja mehrfach, dass diese Koranschulen neue politisch fanatisierte Leute ausspucken, mit dieser Metapher operiert er mehrfach, also die Vorstellung, dass das gleichsam wie eine Art …

Guido Steinberg: Fabrik …

Manfred Schneider: … ja, sozusagen Gift speiende Fabrik von Fanatikern sei, dann geht das natürlich auch ein Stück weit an der Realität dort vorbei. Natürlich spielt Dschihad eine große Rolle, aber das sind eben alles junge Leute, die Koran-Gelehrte werden wollen, also, die sich einweisen lassen in die Lektüre des Koran und daraus ihren Lebenssinn, dann natürlich eben auch ihre Lebensaufgabe entnehmen wollen. Insofern sind diese jungen Koran-Gelehrten, die Schriftgelehrten, die sie werden wollen, eben in einer ganzen Kultur, aber eben doch Leute, die auch auf diese intensive Weise an der Schrift hängen, an dem Geschriebenen, an einer Wahrheit des Literalen, wie so eine Reihe dieser Leute, die ich beschreibe.

Der Unterschied, darauf weisen Sie zu Recht hin, der Unterschied besteht darin, dass es sich um Gruppen, also, um Schwärme von Lesern, die sozusagen in Kollektiven sich diesem Studium ergeben, handelt, während ich in der Tat den Blick auf die Einzeltäter habe, die eben darum interessanter sind, weil sie seltener sind und weil sie eben sozusagen einen ganz besonderen Typus ausbilden.

Claus Leggewie: Wir haben es zu tun mit zwei unterschiedlichen politischen Büchern. Das Politische an dem "Attentat" von Manfred Schneider scheint mir zu sein, dass er einen Zug der modernen Politik herausarbeitet, nämlich die Leugnung von Kontingenz, also, das Paranoide gewissermaßen. Auf der anderen Seite ist der Geschichtsphilosoph, die geschichtsphilosophische Sicherheit, in der sich auch der Westen irgendwann mal eingebettet hat und dann eben durch Planung, Steuerung, durch entsprechende Politiken hervorzukehren die Sicherheit des Bürgers und die sozusagen zu suggerieren.

Und das leugnet gewissermaßen das, was eigentlich das Wesen des Politischen ist, nämlich das Kontingente, das Unvorhersehbare, das Unbeherrschbare. Gibt es denn, das ist immer eine Frage, die man nach der Lektüre solcher Bücher stellt, die in gewisser Weise auch in der Tradition der Dialektik der Aufklärung stehen, gibt es denn eigentlich eine rationale Politik? Also, deuten Sie denn in Ihrem Buch auch an, dass es gewissermaßen Alternativen zu diesem paranoiden Stil gibt? Es gibt ja einen Klassiker in der amerikanischen Literatur über den paranoiden Stil der amerikanischen Politik, den wir gerade in der Tea Party und anderem sehr gut sehen können. Sie haben sehr wichtige Beispiele aus Deutschland, wo es tatsächlich eine Linie von Nietzsche über Schmitt zu Hitler gibt. Das machen Sie auch ganz deutlich. Gibt's denn eine alternative Politik, die da überhaupt noch möglich ist?

Manfred Schneider: Na, ich würde sagen, dass die deutsche Politik weitgehend paranoiafrei operiert in den letzten Jahren. Das ist ein großer Vorzug. Warum das so ist, weiß ich nicht. Denn natürlich ist Europa, und es sind insbesondere die protestantischen Länder ja eigentlich die Brutstätten der modernen Paranoia, also eines bestimmten Bildes der Welt und der Notwendigkeit, mit der bestimmte Dinge passieren müssen, die natürlich auch ihren Ausdruck finden in allen möglichen politischen Religionen.

Aber ich denke, es gibt gegenüber der Paranoia kein Mittel als die intensive öffentliche Diskussion, in der man eben immer nur hoffen kann, dass in dieser Debatte der nichtparanoide Stil siegt und gewinnt. Gegen Paranoia gibt es kein anderes Mittel als Kommunikation.

Claus Leggewie: Zur Übung dieser Sendung gehört ja auch, dass uns die Gäste noch zwei weitere Bücher kurz vorstellen. Fangen Sie an, Herr Steinberg?

Guido Steinberg: Das ist "Roter April", im Original "Abril rojo" von Santiago Roncagliolo. Es ist ein ganz, ganz wunderbares Buch, was schon seit einigen Jahren auf dem Markt ist, seit zwei Jahren jetzt in der deutschen Übersetzung vorliegt. Die deutsche Übersetzung kenne ich leider noch nicht. Und es ist ein Buch, was sich im Grunde mit den Nachwirkungen des Terrorismus in einer Gesellschaft befasst, in diesem Fall hier mit den Nachwirkungen des Terrorismus des "Leuchtenden Pfades" in Peru so um das Jahr 2000, 2001.

Da wird also der Werdegang eines jungen Staatsanwalts in der Provinz Ayacucho geschildert, der alten Hochburg des "Leuchtenden Pfades", der da einen regelrechten Alptraum durchmacht, weil er eben bei den Erkundungen, bei den Ermittlungen zu einem Fall dann auf die Abgründe im Grunde des Umgangs, des peruanischen Umgangs mit diesem Thema trifft, also, die Verbrechen des Militärs, die Verbrechen des "Leuchtenden Pfades". Und das Buch ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie man dann, wie Gesellschaften anfangen nach im Grunde relativ langer Zeit, diese Verbrechen, diese Traumata aufzuarbeiten. Davon sind wir glücklicherweise noch weit entfernt, ist aber in jedem Fall empfehlenswert, sich schon mal vorab damit zu befassen, zumindest eben für die Zeit, wenn dann Al Kaida mal verschwunden ist, was wir ja wahrscheinlich, die meisten von uns, noch erleben werden.

Claus Leggewie: Hoffentlich. Herr Schneider, das andere Buch?

Manfred Schneider: Das andere Buch ist Wolfgang Kraushaar: "Verena Becker und der Verfassungsschutz", eben erschienen. Sie haben sicherlich auch gelesen, am 30. September ist in Stuttgart vor dem Oberlandesgericht erneut ein Prozess gegen Verena Becker, Mitglied der RAF, schon einmal 1977 zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt, 1989 begnadigt, eröffnet worden. Ihr wird also Beteiligung an der Ermordung des Bundesanwalts Siegfried Buback am 7. April 1977 vorgeworfen.

Diese Anklage ist, glaube ich, schon der Effekt von Recherchen, auf die auch Kraushaar Bezug nimmt. Nämlich, inzwischen ist auch klar, dass Verena Becker die Bekennerbriefe verschickt und zugeklebt hat. Also, diese Tatbeteiligung ist inzwischen im entferntesten, im allgemeineren Sinne nachgewiesen. Es geht nun hier darum, ob sie möglicherweise selber als Täterin infrage kommt.

Was Kraushaar nun recherchiert hat, ist in der Tat beängstigend oder, man könnte sogar sagen, schockierend. 1981 hat sich Verena Becker gegenüber dem Bundesnachrichtendienst offenbart und hat eben auch einige Auskünfte gegeben über die Täter. Es gibt aber eben eine ganz Reihe von Indizien, dass sie schon sehr viel länger mit den Behörden zusammenarbeitet und möglicherweise bereits seit dem Jahr 1971. Das heißt also, dass dieser Mord an Buback gewissermaßen unter dem Blick des Verfassungsschutzes stattgefunden haben könnte.

Claus Leggewie: Das ist natürlich ein wunderbares Beispiel für die Rochade zwischen Täter und Opfer, die hier fast idealtypisch abgebildet ist.

Wir müssen leider zum Schluss kommen. Das war Lesart Spezial aus dem Café Central im Schauspiel Essen, zusammen mit der Buchhandlung "Proust". Besprochen haben wir die Bücher von Willi Germund "Allahs Missionare" und von Manfred Schneider "Das Attentat – Kritik der paranoischen Vernunft". Es verabschiedet sich Claus Leggewie und wünscht noch einen schönen Tag.

Manfred Schneider: Das Attentat – Kritik der paranoischen Vernunft
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2010

Willi Germund: Allahs Missionare – Ein Bericht aus der Schule des Heiligen Krieges
Dumont-Buchverlag, Köln 2010
Manfred Schneider, Claus Leggewie, Guido Steinberg (v.l.n.r.)
Manfred Schneider, Claus Leggewie, Guido Steinberg (v.l.n.r.)© DLR Kultur
Manfred Schneider, Das Attentat
Manfred Schneider, "Das Attentat"© Matthes & Seitz
Willi Germund, Allahs Missionare
Willi Germund, "Allahs Missionare"© DuMont