"Leonce und Lena" in Frankfurt / Main

Dem Tod entkommen - und im Leben gefangen

Isaak Dentler als Prinz Leonce in Jürgen Kruses Frankfurter Inszenierung von "Leonce und Lena"
Isaak Dentler als Prinz Leonce in Jürgen Kruses Frankfurter Inszenierung von "Leonce und Lena" © Birgit Hupfeld
Alexander Kohlmann · 16.10.2015
Jürgen Kruse inszeniert in Frankfurt am Main eine traumhaft-schöne "Leonce und Lena"-Ballade. Dabei gerät das Stück zu einem melancholischen Albtraum, der auch dem Ur-Text - dem Lustspiel von Georg Büchner - innewohnte.
Natürlich irrt jedermann, der glaubt diese Inszenierung habe etwas mit der Lebenswelt des Co-Regisseurs Jürgen Kruse zu tun. Oder mit der von Büchner vor rund 200 Jahren. Das Preisausschreiben, für das Büchner sein Lustspiel geschrieben hat, wird schon beim Einlass auf eine verführerisch funkelnde Gase projiziert - alles nur ein Spaß also?
Prinz Leonce ist in Kruses Inszenierung kein bleicher Jüngling, sondern Isaak Dentler spielt den Königssohn als einen bereits etwas abgehalfterten Lebemann mit charismatischem Vollbart. Der leuchtet aus einer dieser typisch-kruseschen Rumpelkammern wie ein Sterngucker mit einem Fernrohr in das Publikum hinein - als würde er ihn dort finden, den Sinn des Lebens. Um ihn herum stehen leere Flaschen, die Reste des letzten Gelages. Globen hängen von der Decke herrunter, eine JukeBox leuchtet rot-verführerisch. "Du hast geschrien im schlaf", spielt die zum Beispiel, einen fast vergessenen Song von Humpe&Humpe.
Leonce betrinkt sich und veranstaltet zum Spaß Fechtduelle
Im Hinterzimmer vegetiert der Vater. König Peter vom Reiche Popo ist nur als Schatten hinter dem Fenster zu erkennen, wie er sich von gleich mehreren Damen wie ein Baby in weiße Stoffbahnen wickeln lässt. "Demenz, Demenz", rufen die Ladys, während der König wirr vor sich hinbrabbelt, dass er sein Volk vergessen habe - und nicht nur das. Nein, von diesem Vater ist für Leonce keine Orientierung zu erwarten, der König liefert nur das Geld für ein Leben im materiellen Überfluss. Und in größtmöglicher Langeweile. Leonce hört Rocksongs, betrinkt sich und veranstaltet zum Spaß Fechtduelle mit Valerio. Oliver Kraushaar spielt den Prinzen-Freund als mephistophelischen Verführer ganz in blau, mit Zylinder. Ein Spielgefährte, der doch mehr vom Leben weiß als der dekadente Königssohn - und ganz bestimmt sein eigenes Süppchen kocht. Als alle gemeinsam nach Italien reisen, führt er die Polonaise an, quer durch die Rumpelkammer, jenes riesige Spielzimmer für Erwachsene, dass nicht nur die Charaktere auf der Bühne warscheinlich nie verlassen haben.
Das Gelage könnte ewig so weitergehen, wenn Leonce nicht in Prinzessin Lena sein Gegenbild finden würde. Eine heiße Braut, ganz in Schwarz. Jürgen Kruse hat die Schauspielerin Linda Poppel in eine dieser geheimnisvollen Frauen verwandelt, die so typisch für seine Inszenierungen sind. Eine, hinter deren schiefem Lachen sich eine ungezügelte Lebenslust verbirgt. Und eine, die sich genau wie Leonce in diesem Zauberreich buchstäblich zu Tode langweilt. Jeder für sich liegt des Nachts unter seinem Bettlaken und träumt. Schon als sie sich wie im Traum näherkommen, ist die gemeinsame Todessehnsucht unverkennbar. Von irgendwoher kommt blutrote Farbe, während sie sich küssen. Das Laken ist rot, dann werden sie wie Gefangene abgeführt. Es ist ein Flirt mit dem Jenseits, in einer Welt, in der der fortlaufende Exzess ab einem gewissen Alter auch keine Erfüllung mehr verspricht. Trotz JukeBox und Rock'n'Roll, die Party ist irgendwann vorbei - und das Leben klopft an die Tür.
Shakespeare mit Rock-Songs gekreuzt

So gerät dieser Abend auch zu einem Kommentar zu der mittlerweile, rund dreißig Jahre währenden Kruse-Bühnenparty. Als junger Mann hatte dieser Regisseur einst an der Berliner Schaubühne damit begonnen, das Lebensgefühl von Rock-Songs mit den mehrdimensionalen Texten William Shakespeares zusammen zu bringen. Und in den Kalauern der Pop-Barden und den Versen des elisabethanischen Dichters entdeckte er immer wieder überraschende Verbindungen. Über die Jahre kreierte Kruse so eine Welt der allumfassenden Bedeutungskorrespondenzen, in die eine Heerschar von Kruse-Jüngern immer wieder gerne zurückkehrte - und weite Reisen auf sich nahm -, um sich erneut dem altbekannten Wahnsinn auszusetzen.

Und jetzt, alles in die Jahre gekommen? Im Gegenteil, der Abend ist so stringent und konzentriert wie lange kein Kruse-Abend zuvor. Ausgerechnet Jürgen Kruse verzichtet bei "Leonce und Lena" auf ein Feuerwerk des Kalauer bespickten Klamauks, stattdessen konzentriert er sich ganz auf den zutiefst melancholischen Kern des Büchner-Textes. Irgendwann ist der Traum vom lebenslangen Rock'n'Roll ausgeträumt - dann liegt man doch wie alle anderen, frisch eingerollt, bei den Fischen. Und dann? Eine Dame legt der wilden Prinzessin für die Hochzeit ein weißes Gewand über die Schulter und verschnürt es - bis es wie eine Zwangsjacke jede freie Bewegung verhindert. Da steht sie nun, Prinzessin Lena. Dem Tod entkommen - und im Leben gefangen.