Léon Werth: "33 Tage"

Wenn niedere Instinkte die Oberhand gewinnen

Eine Krankenschwester verteilt während des Zweiten Weltkriegs in einem französischen Bahnhof im Mai 1940 Wasser an Flüchtlingsfamilien.
Eine Krankenschwester verteilt während des Zweiten Weltkriegs in einem französischen Bahnhof im Mai 1940 Wasser an Flüchtlingsfamilien. © AFP
Von Maike Albath · 14.06.2016
Große Teile der Pariser Bevölkerung flohen 1940 vor der deutschen Eroberung nach Südfrankreich – unter ihnen der Schriftsteller Léon Werth. In "33 Tage" erzählt er von diesem Ausnahmezustand: Ein sachlicher Bericht, der dennoch etwas Poetisches entfaltet.
Auf den Straßen hinter Paris reihen sich Blechkarossen aneinander, Autoschlangen ziehen sich bis zum Horizont, vereinzelt sieht man auch Pferdefuhrwerke, sogar Fahrradfahrer sind unterwegs. Tagelang harren die Kolonnen aus, nichts bewegt sich, an ein Vorankommen ist nicht zu denken.
In den ersten Junitagen 1940 verlassen große Teile der Bevölkerung die Hauptstadt, um der drohenden Eroberung durch die deutschen Truppen zu entgehen. Auch der Schriftsteller und Kunstkritiker Léon Werth, Verfasser antikolonialistischer Romane, 62 Jahre alt und ein bekannter Mann, macht sich gemeinsam mit seiner Frau Suzanne auf den Weg, zunächst eher widerwillig, weil er an eine tatsächliche Bedrohung nicht glauben mag.
33 Tage nimmt die mühselige Reise Richtung Süden in Anspruch, bei der das Ehepaar auf die Gastfreundschaft von Bauern und Provinzhonoratioren angewiesen ist und erste Eindrücke von einem Land sammelt, das unter Fremdherrschaft gerät. Kurz nach der Ankunft in Saint-Amour, wo die Familie ein Sommerhaus besitzt, schreibt Werth die Eindrücke der Flucht nieder. Das Ergebnis ist ein Bericht, der in seiner spröden Sachlichkeit etwas Poetisches entfaltet und ebenso eindringlich wie mitreißend ist.

Gesellschaft im Ausnahmezustand

In "33 Tage" begegnet der Leser einer Gesellschaft im Ausnahmezustand. Verblüfft registriert Werth, wie sich die Gutsbesitzerin Mme Soutreux sofort mit den neuen Machthabern gemein macht. Während sie die französischen Einquartierungen feindselig hinnimmt, werden die deutschen Soldaten zuvorkommend behandelt und mit Champagner bewirtet. Von dem hoch gerühmten französischen Patriotismus keine Spur.
Opportunismus und Schläue sind an der Tagesordnung, man arrangiert sich, am besten kommen die Kaltblütigen durch. Eine bestimmte Sorte Menschen scheint sofort Profit aus der veränderten Lage schlagen zu können.
Aber es gibt auch Gegenbeispiele. Der aufrechte Bauer Delaveau gehört dazu, mit dem Werth regelrecht Freundschaft schließt – auch den Besatzern gegenüber steht er unbeirrbar zu seinen Werten. In Delaveau erkennt der Schriftsteller das, was er an Frankreich schätzt.

Lange verschollenes Manuskript

Das Manuskript hat eine bemerkenswerte Geschichte: Léon Werth, 1878 geboren und 1955 gestorben, konnte wegen des "Statut des Juifs" der Vichy-Regierung nicht nach Paris zurückkehren und vertraute seinen Bericht kurz nach dessen Fertigstellung seinem Freund Antonie de Saint-Exupéry an. Saint-Exupéry übergab den Text seinem amerikanischen Verleger und versah ihn mit einem Vorwort, ein Vertrag wurde geschlossen, doch das Buch kam nie heraus.
Erst 1992 tauchte das Manuskript in einem amerikanischen Archiv auf und wurde 1994 in Frankreich veröffentlicht, kurze Zeit später erschien es erstmals auch auf Deutsch.
Ausgestattet mit dem berühmten Vorwort Saint-Exupérys und einem Nachwort von Peter Stamm liegt es jetzt in einer neuen Ausgabe vor. Bestechend ist vor allem die Nüchternheit: In "33 Tage" zeichnet Werth nach, wie rasch niedere Instinkte die Oberhand gewinnen können.

Léon Werth: "33 Tage"
Mit einem Vorwort von Antoine de Saint-Exupéry und einem Nachwort von Peter Stamm
Aus dem Französischen von Tobias Scheffel
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016
207 Seiten, 19,99 Euro

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