Lenins junge Erben

Von Boris Schumatsky · 28.02.2012
Es gilt in Russland als cool, ein Wirtschaftsliberaler zu sein: Der Sozialstaat sei gescheitert, die Kapitalismuskritik abgedroschen, alle Diskussionen darüber müßig, heißt es, jedenfalls, solange korrupte Beamte das Land ausplündern.
"Mein Gehalt wurde gekürzt. Als ich anmerkte, dass das vielleicht nicht okay war, mir von heute auf morgen zehntausend Rubel wegzunehmen, und das auch noch kurz vor Weihnachten, - antwortete mein Chef: 'Frechheit! Du bist nicht mal halb so viel wert.' So werden hier alle behandelt, Industriearbeiter oder Leute wie ich."

Die Nachrichtenredakteurin Eugenia Otto hat ein Fünftel ihres Gehalts verloren. Jetzt verdient sie umgerechnet 1000 Euro, für Moskau ein durchschnittliches Einkommen. Wie die meisten russischen Arbeitnehmer ist sie der Willkür ihres Chefs ausgeliefert.

Die Rechte, die die sogenannten Werktätigen in der Sowjetunion einst besessen hatten, wurden nach dem Zusammenbruch des Sozialismus immer weiter beschnitten, besonders stark im letzten Jahrzehnt unter der Regierung Wladimir Putins. In der gleichgeschalteten politischen Landschaft hat keine Partei überlebt, die konsequent für soziale Gerechtigkeit eintritt. Die 25-jährige Eugenia gehört zur neuen Generation der Linken, die diese Nische besetzen wollen.

"Geh auf die Straße, hol dir deine Stadt zurück! Seid realistisch, fordert das Unmögliche!"

Unter diesem Transparent demonstriert die Soziologiestudentin und Arbeiteraktivistin Irina gegen Putins Staat.

"Das, was heute in Russland geschieht, ist noch keine Revolution. Aber diese Proteste können dazu beitragen, dass die Leute in Russland wieder frei über die Politik reden, dass sie zu denken anfangen und sich organisieren. Es wird die wahre Revolution sein, wenn die Leute erkennen, was um sie herum falsch läuft. Aber was sie dagegen tun, das wollen wir ihnen nicht vorschreiben, das wird allein ihre Sache sein."

Der Protestzug zieht an Häusern vorbei, an deren Wänden in Irinas früher Kindheit manchmal ein Staatswappen der UdSSR hing oder die Losung "Vorwärts zum Sieg des Kommunismus". Heute sind alle freien Flächen mit Werbung zugepflastert, von Schweizer Uhren bis zur Damenunterwäsche. Für Irina ist Putins Russland lediglich eine Neuausgabe der Sowjetunion, mit Mercedesstern als Staatssymbol anstelle von Hammer und Sichel. Wenn ihre Eltern das gesehen hätten, sagt die Soziologiestudentin, damals, als sie ihr Kinderbücher über eine glückliche Zukunft vorgelesen haben!

"Sie hätten sich nicht im Traum vorstellen können, dass man durch die Stadt geht, und statt die Architektur bewundern zu können, überall nur nackte Körper sieht. Unsere Eltern haben nicht für so etwas gekämpft."

Irinas Eltern leben in Nord-Ossetien im Süden Russlands. Sie gehören nicht zu den Profiteuren des neurussischen Kapitalismus.

"Meine Eltern leben von einer winzigen Rente und als wäre ihr Leben nicht schwer genug, kommt jetzt auch noch die Polizei zu ihnen und schikaniert sie. Die Polizei sammelt Daten über mich. Man hat mich nämlich nach unangemeldeten Protesten gegen gefälschte Wahlen festgenommen. Eintausend Leute wurden damals abgeholt. Jetzt kommt die Polizei zu unseren Verwandten, zu unseren Nachbarn. Statt Verbrechen aufzudecken, schüchtert unsere Polizei Leute ein."

"Stimmt es, dass deutsche Arbeiter Kaffee trinken", fragt die Nachrichtenredakteurin und linke Aktivistin Eugenia, "und das Bürgertum Tee vorzieht? In Russland trinken die Arbeiter Tee." Eugenia ist Trotzkistin und Mitglied im sogenannten "Komitee für eine Arbeiterinternationale". Sie bestellt einen Cappuccino mit Zimt.

"Ich bin 1987 während des Baby-Booms geboren. Auf den Arbeitsmarkt kam ich 2008, als die Krise ihren Höhepunkt erreichte: Keinerlei Garantien, keine Perspektiven. So wie mir geht es meiner ganzen Generation. Wenn wir Termini wie Arbeiterklasse oder Proletariat verwenden, meinen wir heute uns als Arbeitnehmer.

Also bezeichne ich mich als Arbeiter, obwohl man bei diesem Wort eher an Männer mit großem Hammer denkt, während ich im Büro neben der Kaffeemaschine sitze. Aber auch ich verkaufe meine Arbeit und der Kapitalist erwirtschaftet daraus seinen Profit, weil er einen Teil meiner Arbeit nicht bezahlt. Er verdient enorm viel, mehrere Milliarden, ich weiß ja, wer mein Boss ist."

Das Nachrichtenportal, bei dem Eugenia tätig ist, gehört dem drittreichsten Mann Russlands, Michail Prochorow. Der Oligarch ist auch in der Politik aktiv. Prochorows Programm:

Lockerung des Kündigungsschutzes. Verlängerung der Tagesarbeitszeit auf zwölf Stunden. Befristung der Arbeitsverträge. Erhöhung des Rentenalters.

Mit Putin folgt Russland dem Welttrend zum Sozialabbau. In dem Land, das einst Vollbeschäftigung, kostenlose Gesundheitsversorgung und Bildung proklamiert hat, haben die Arbeitnehmer heute weniger Rechte als in den USA, geschweige denn in Sozialstaaten wie Deutschland. Soziale und wirtschaftliche Probleme Russlands spitzen sich indes zu.

Hohe Profite werden vor allem in der Rohstoffförderung erwirtschaftet, andere Branchen und ganze Regionen sind dagegen von Deindustrialisierung bedroht. Die Kluft zwischen den Reichsten, die von Ölgeldern profitieren, und den Ärmsten ist in zehn Jahren um das Fünffache gewachsen. Die Zahl der Armen stieg dabei auf 16 Prozent der Bevölkerung. Heute leben in Russland fast 23 Millionen Menschen unterhalb des Existenzminimums.

"Unsere sogenannte Demokratie ist nichts anderes als ein Zarenreich. Ich liebe mein Land, also hasse ich diesen Staat!"

Die Abneigung gegen das Regime hat breite Bevölkerungsschichten erfasst. Längst protestieren nicht mehr nur politische Aktivisten wie der Anarchist Sascha.

"'Ich hasse den Staat'. Nun, ich kann das auch für mich sagen, was die Band Lumen da singt. Sie ist sehr beliebt. Ich finde es bezeichnend, dass ihre meisten Fans unpolitisch sind."

"Ich schlage dieses Lied als Staatshymne Russlands vor", schrieb auf Youtube einer der vielen Fans.

Die liberale Öffentlichkeit führt die soziale Misere und politische Rückständigkeit Russlands allein auf die Allmacht korrupter Beamten zurück, die das Land ausplündern. Der europäische Sozialstaat ist für sie gescheitert. Kapitalismuskritik empfinden die Neoliberalen als abgedroschen. Als Ausweg aus der Krise werden Lösungen diskutiert, die sogar für die US-amerikanische Tea Party zu radikal wären.

Etwa die Einschränkung des Wahlrechts für Millionen Mittellose. Sozialdarwinismus gilt als cool - je zynischer desto besser. Das muss auch Eugenia erleben.

"Das, was ich in meiner Arbeit täglich durchmache, bezeichnet man als Entfremdung. Ich werde wie eine Schreibmaschine benutzt, es ist genauso, wie die Muskelkraft eines Arbeiters benutzt wird, den man jederzeit rausschmeißen kann. Ich muss einen Artikel pro Stunde schreiben, und das macht auf Dauer stumpf. Nach zwei Jahren, sagen sie uns, ist man völlig verbraucht, dann schmeißen sie einen raus. Mein Chef sagt, 'Ihr seid Druckerpatronen.' Ich arbeite dort seit einem Jahr, also werde ich in einem Jahr wie eine leere Tintenpatrone entsorgt."

Bisher konnte der Staat jeden Widerstand gegen den entfesselten Kapitalismus mit Petro-Rubeln ersticken. Heute ist aber die Protestwelle stärker als je zuvor.

Wie Eugenija und Hunderte anderer Aktivisten bereitet sich heute auch Sascha auf die morgige Demonstration vor. Das 24-jährige Mitglied der anarchistischen "Autonomen Aktion" trägt keine typische Autonomenkluft.

Heute kleiden sich die jungen Linken in Russland wie ihre unpolitischen Altersgenossen: Die Hip-Hopper, Punker oder auch Skater, zu deren Subkultur sich Sascha bis vor kurzem zählte. Jetzt hat der Informatik-Student keine Zeit mehr für sein Skateboard. Nach der Uni schreibt er Flugblätter oder malt Transparente für Mahnwachen, Kundgebungen, Protestmärsche. Morgen soll Sascha die Anarchisten-Zeitung "Situazija" verteilen.

"Solche Aktionen finde ich sinnvoller, als zum Beispiel ein Polizeiauto in Brand zu setzen oder eine Bank hochzujagen. Unsere Methoden sollten unseren Zielen entsprechen. Wenn wir eine gerechte Gesellschaft anstreben, ohne Zwang und Gewalt, dann sollten wir auch so handeln. Natürlich ist dieser Weg viel schwieriger, und es gibt Leute, die zu anderen Mitteln greifen. Dennoch glaube ich an eine gewaltlose Revolution. Eine gewaltsame Revolution haben wir 1917 bereits gehabt -, und gesehen, wozu sie geführt hat."

Der Stalinismus wirft bis heute seinen Schatten auf die russische Linke. Auch das ist der Grund, warum die Auflehnung gegen das System Putin oft einen braunen Anstrich bekommt. Wenn linke Ideen suspekt erscheinen, sucht die Bevölkerungsmehrheit, die allmählich jeglichen Zugang zu Bildung und gesellschaftlichem Aufstieg verliert, ihre politische Identität bei rechten Ideen. Liberale Putin-Gegner akzeptieren extreme Nationalisten inzwischen als Verbündete.

"Aber diese Leute sind gefährlich. Deswegen gehört der Antifaschismus zu den Prioritäten unserer Arbeit. Ich bin überzeugt, am Ende werden wir Erfolg haben. Schauen Sie, die ökonomischen Formationen währen doch nicht ewig. Der Kapitalismus hat sich selbst festgefahren, und er wird abgelöst werden. Ob wir das erleben, oder ob uns davor die Faschisten umbringen, das weiß ich nicht."

Alle, die heute zur Demonstration kommen, werden wie am Flughafen durch Metalldetektoren geschleust. Nicht nur Waffen, auch Thermosflaschen mit heißem Tee sind verboten - bei fast 20 Grad Frost. Gleich hinter den Metalldetektoren verteilt Sascha sein Anarchisten-Blatt.

""Ich habe bereits über eintausend Stück verteilt. Manche Leute sehen die Schlagzeile "Freiheit den serbischen Anarchisten" und sagen, 'Pfui, ihr seid doch alle Banditen und Chaoten.' Ich antworte ihnen, dass wir libertäre Kommunisten sind. Da wundern sich die Leute, dass es so etwas überhaupt gibt, ein freiheitlicher, staatsloser Kommunismus.""

Sascha verharrt schon seit einer Stunde in der Kälte. Immer mehr Menschen kommen nach, jetzt sind es fast Hunderttausend. Endlich setzt sich der lange Protestzug in Bewegung.

Saschas Genossen werden von einer Abteilung vermummter Männer in Schwarz eingeholt.

Die Anarchisten marschieren unbekümmert weiter. Um sich warm zu bekommen, singen und tanzen sie zu einem Anarchisten-Lied aus dem vorigen Jahrhundert.

Vermummten Neonazis kommen immer näher, ein Zusammenprall scheint unvermeidlich. Die Anarchisten skandieren:

"Nieder mit dem bürgerlichen Nationalismus! Es lebe die freiheitliche Selbstverwaltung!"

Die Anarchisten machen sich über die Neonazis lustig.

"Hey seid ihr dort wirklich alle Arier?"

nehmen sie ihre Gegner auf den Arm. Diese bleiben keine Antwort schuldig und rufen einen beliebten Sprechchor der Anarchisten:

"Höher, höher die schwarze Flagge - der Staat unser größter Feind!"

Saschas Freunde stimmen in den Sprechchor ein, versuchen dabei, die Braunen zu überschreien. Dann eint der gemeinsame Feind Rote und Braune. Der sich anbahnende Streit ist im Menschenmeer der Putin-Gegner untergegangen.

Ein Polizist, der ohne Unterstützung dabei war, schaut erleichtert auf eine sich nährende Kolonne der offiziellen Kommunistischen Partei Russlands: rote Fahnen mit Hammer und Sichel - das Staatssymbol der Sowjetunion. Damals waren diese Kommunisten die Regierungspartei der Sowjetbürokratie. Heute bilden sie die zweitstärkste Fraktion in der Staatsduma und sind treue Diener der autokratischen Bürokratie Putins. Vorwiegend ältere Leute, die zum Teil sogar noch ihre Mäntel aus der Sowjetzeit tragen.

Für diese Ewiggestrigen haben die meisten älteren Russen nur noch ein Gefühl übrig: Allergie. Erst der Realsozialismus, dann die Kollaboration mit Putin haben die linke Idee nachhaltig diskreditiert. Die junge Trotzkistin Eugenia aus dem "Komitee für eine Arbeiterinternationale" hat öfters erlebt, wie ältere Linke sich für ihre Überzeugungen fast schämen.

"Ein Genosse von mir sagt, dass mache Linken ihre Überzeugung so verstecken, als hätten sie Syphilis. Er meint natürlich nicht unsere Arbeiterinternationale, sondern Leute, die im stagnierenden Realsozialismus aufgewachsen sind. Meine Eltern kennen die marxistische Theorie nur aus ihren Schulbüchern.

Sie haben gesehen, dass sie mit der Realität nichts zu tun hat. Statt Basisdemokratie und Mündigkeit erlebten sie eine Bürokratie, die sie beherrscht und unterdrückt hat. Ich kann mich aber nicht an mehr die Sowjetunion erinnern. Dafür erinnere ich mich sehr gut an den Kapitalismus, und ich erlebe ihn tagtäglich am eigenen Körper. Wir haben nur die Wahl zwischen Liberalismus, Nationalismus und den linken Ideen. Das ist alles, die Menschheit hat nichts anderes erfunden."

Eugenia hatte sich zwei Jahre lang in der Szene umgesehen, bevor sie ihre politische Heimat bei den Trotzkisten fand. Das Hauptquartier ihrer Internationale ist in London. Die jungen russischen Linken knüpfen gerne an Relikte der 68er-Bewegung. Sie sind mehr auf Diskussionen über ihren Trotzki eingestellt, als auf Schlägereien mit Neonazis oder Krawallen in Bankenvierteln. Linke Splittergruppen bezeichnen sich gemeinsam als "Dwischénije", als "Bewegung". Die junge russische Linke weist viele Parallelen mit den Anfängen der Studentenbewegung auf. Zugleich empfindet sich die junge russische Linke als einen Teil der weltweiten Protestbewegung, von Tunis bis New York und Madrid.

Der antikapitalistische Protest scheint für Putins jedoch das kleinste Problem zu sein. Russische Oligarchen und Staatsbeamte sind mit einer viel stärkeren Protestbewegung konfrontiert, die längst alle politischen und gesellschaftlichen Gruppen erfasst hat: Diejenigen, die sich für einen freien Markt ohne Putins Korruptionsstaat einsetzen. Andere, die für ein Russland für Russen kämpfen; und auch die, die von einer sozialistischen Revolution träumen. Sie alle kämpfen jetzt gemeinsam und bereiten sie sich auf die Zeit nach Putin vor.

"Russland ohne Putin!" Erst wenn dieser Kampfruf umgesetzt ist, glauben Eugenia, Sascha und Irina, hat eine freiheitliche, gerechte Gesellschaft eine Chance. Wann ist aber Revolution? Und was tut man als Linker in Putins Raubtierkapitalismus? Eugenia will ihren Redakteurinnen-Job kündigen, bevor man sie wie eine verbrauchte Tintenpatrone rausschmeißt.

Wie es in Russland weitergeht, hängt auch von den Protestbewegungen in den USA und Europa ab. So wie uns jetzt die Revolution im Nahen Osten beeinflusst, so hoffen wir bald auf Impulse aus Europa. Bis dahin träume ich davon, mit meinen Händen zu arbeiten. Ich liebe Autos, vielleicht lerne ich Automechanikerin.

Die Soziologiestudentin Irina will Vollzeit für die Bewegung arbeiten.

Solange es soziale Ungerechtigkeit gibt, ist es einfach unmöglich, nicht dagegen zu kämpfen. Oder soll ich etwa ins Büro arbeiten gehen? Soll ich für Putin stimmen?

Der Informatiker Sascha ist dagegen völlig unpathetisch, wenn es um eine bessere neue Welt geht.

"Ich persönlich glaube, dass ich eine anarchische Gesellschaft nicht erleben werde. Für den Weg dahin werden wir wahrscheinlich einige Jahrhunderte brauchen. Manche Leute kommen in die Bewegung. Wenn sie nach Kundgebungen keine direkten Ergebnisse sehen, schmeißen sie alles wieder hin. Ich bin aber der Meinung, man sollte nicht stehen bleiben. Ich möchte mal ein Lied der Anarcho-Band La Vida Cuesta Libertades zitieren, das jetzt ein wichtiger Slogan ist: "Unsere Kinder werden wie wir, und sollten wir scheitern, werden sie es schaffen."

Eugenia zögert nicht lange, wenn man sie fragt, wann die Revolution endlich komme.

Warten Sie mal, ich muss schnell in meinem Terminkalender nachschauen. Ich hab's mir irgendwo notiert.
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