Lemberger Buchforum

Bücher und Kriegsdebatten

Blick auf die Stadt Lviv, ehemals Lemberg, im Westen der Ukraine
Blick auf die Stadt Lviv, ehemals Lemberg, im Westen der Ukraine © dpa / picture alliance / Lyseiko
Von Martin Sander · 14.09.2014
Die Stimmung bei der größten ukrainischen Buchmesse war in der Spätsommerhitze harmonisch und geschäftig. Bestimmendes Thema der Debatten in Lviv: der Krieg im Osten des Landes und seine Folgen für das Selbstverständnis der Ukraine.
Timothy Snyder: "In den vergangenen acht Monaten habe ich versucht, den Europäern und Amerikanern zu erklären, wie bedeutend die Geschichte der Ukraine für uns ist. Jetzt bin ich hier auf dieser Buchmesse, um den Ukrainern zu erklären, wie die Europäer und Amerikaner das sehen, was innerhalb der Ukraine geschieht."
Zum Abschluss der Buchmesse war der Osteuropa-Historiker und Yale-Professor Timothy Snyder nach Lviv gekommen. Im überfüllten Speisesaal des legendären Lemberger George-Hotels bekundete Snyder seine Solidarität mit der jungen ukrainischen Demokratiebewegung.
Vier Tage lang hatten sich die Menschen an zahlreichen Plätzen des alten habsburgischen Stadtzentrums von Lviv – zu österreichischen Zeiten: Lemberg -gedrängt - dort, wo Buchhändler oder Verlage ihre Ware wie auf einem großen Basar feilboten und dort, wo die Lesungen und großen Debatten stattfanden.
Die Stimmung in der Spätsommerhitze war harmonisch, geschäftig, aufgekratzt. Nur hier und da taten sich Dissonanzen auf - so wenn Händler auf der Messe Plüschtiere anboten, deren Erlös der Aufrüstung von ukrainischen Kampfverbänden sollten.
Die meisten historischen Debatten und viele Autorentreffen mündeten in Betrachtungen zur aktuellen Lage. Die Schriftstellerin Natalka Sniadanko:
"Also die Familien gehen auseinander an dieser Frage. Die Verwandten, die Bekannten, die Ehen, alles. Also das ist nach einer so langen Lethargie, wo die Leute gesagt haben, es interessiert uns gar nichts außer dass wir Fernsehen und Essen haben, jetzt kommen die Leute dazu, dass man sich auch politisch entscheiden muss, und ohne das geht gar nichts."
Selbstverständnis der Ukrainer wandelt sich
Es ging auf dieser Buchmesse um die Folgen des Krieges. Eine der wichtigsten scheint ein Wandel im Selbstverständnis der Ukrainer zu sein.
Taras Voznjak: "Der Majdan im Winter 2014 und der darauffolgende ukrainisch-russische Krieg haben neue politische Realien hervorgebracht. Ich würde sagen, es ist eine neue politische Nation entstanden. Für diese ukrainische Nation sind die Fragen von Sprache, Religion und ethnischer Herkunft oder Ähnliches nicht mehr so bedeutend."
Taras Voznjak ist ein politischer Publizist und Verleger in Lemberg.
"Es geht um die Erfahrung, dass die Menschen, die Russisch sprechen, egal ob sie nun Russen sind oder Juden, auch ukrainische Patrioten sein können. Das ist das Wichtigste."
Lemberg gilt traditionell als eine Hochburg des ukrainischen Nationalismus, doch ist die Popularität rechtsnationaler Gruppen in den letzten Monaten zurückgegangen. In Kiew hingegen hatte Ende Juli Vizeregierungschef Aleksander Sytsch für international irritierende Schlagzeilen gesorgt. Der Politiker aus den Reihen der nationalistischen Swoboda-Partei verkündete, ukrainisches Kulturgut gehöre unter besonderen Schutz. Dabei gelte es, russische Einflüsse in Literatur und Film zurückzudrängen.
Martin Pollack, der Träger des Leipziger Buchpreises 
Der österreichische Schriftsteller Martin Pollack© picture alliance / ZB / Florian Eisele
Österreichischer Ehrengast
"Ich kenn niemanden hier, der jetzt sagt: Um Gottes willen, die Russen kommen. Jetzt möchte ich mit der russischen Kultur nichts mehr zu tun haben. Das ist nicht der Fall",
konstatiert der österreichische Schriftsteller Martin Pollack, der als Ehrengast auf der Lemberger Buchmesse weilte. Pollack hat sich bereits in mehreren Büchern mit der Geschichte der Region beschäftigt – und glaubt nicht, dass es eine Mehrheit gibt, die für die Umsetzung der Kiewer Ankündigung zum Schutz der ukrainischen Kultur plädieren würde.
Martin Pollack: "Also jeder meiner Freunde hier spricht perfekt Russisch, lebt die russische Kultur. Insofern sitzt man auch der Putin-Propaganda auf, wenn man das glaubt, dass die Ukrainer jetzt so eine antirussische Haltung haben, das in der Ukraine das Russische verboten werden muss. Das ist überhaupt nicht der Fall."
Ein deutliches Statement, das der amerikanische Osteuropahistoriker Timothy Snyder fast noch überbot:
"Es gibt eine wichtige Sache, die wir im Westen noch nicht begriffen haben: Durch seine Praxis ist dieses Land in Sprachfragen viel toleranter als alle unsere Heimatländer. Sprechen Sie mal eine zweite Sprache in Deutschland und schauen Sie, was da so passiert. Wir sind hier in Lviv, dem Zentrum der ukrainischen Sprache. Wenn ich hier Russisch spreche, dann antworten die Menschen einfach auf Russisch. Das ist absolut überhaupt kein Thema."
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