Lehrer als "Lernbegleiter und Lernberater"

Gisela Gravelaar und Bettina Parke im Gespräch mit Frank Meyer · 10.12.2008
Die Wartburg-Grundschule in Münster ist die beste deutsche Schule des Jahres 2008. Die Schule setzt nach den Worten ihrer Leiterin Gisela Gravelaar stark auf die Mitbestimmung der Schüler, auch bei den Lerninhalten. "Wir besprechen mit dem Kind, welches neues Ziel es sich im Lernprozess setzen will. Man muss sich das wirklich so vorstellen, dass wir mit dem Kind im Dialog stehen."
Meyer: Das ist auch ein Kind der Pisa-Debatte: der deutsche Schulpreis. Er soll zeigen, was für großartige, experimentierfreudige, den Kindern zugewandte Schulen es in Deutschland gibt - aller Kritik am deutschen Bildungssystem zum Trotz. Heute wurden sechs Schulen ausgezeichnet - Schulen aus Ammerbuch, Paderborn, Bonn und Rastede, aus Bremen und Berlin. Die beste Schule des Jahres 2008 steht in Münster - die Wartburg- Grundschule. Gisela Gravelaar und Bettina Parke bilden das Leitungsteam dieser Schule. Ich habe vor der Sendung mit den beiden gesprochen und sie zuerst gefragt - was für eine Art Schule ist denn die Wartburg- Grundschule, welches Konzept verfolgen Sie?

Gisela Gravelaar: Wir sind eine nahezu vierzügige Grundschule, und in unserem Schulprogramm steht drin: Kinder wollen etwas lernen, Kinder wollen erfolgreich sein, Kinder möchten Verantwortung übernehmen und jedes Kind muss Erfolge haben können. Und das sind die wesentlichen Dinge, die wir versuchen bei uns in der Schule auch umzusetzen.

Meyer: Die frühere Schuldirektorin Enja Riegel, die gehört zu dieser Jury, die den Deutschen Schulpreis vergibt, und die hat gesagt, an Ihrer Schule, an der Wartburg-Grundschule, würde Demokratie ganz großgeschrieben. Was hilft denn Demokratie beim Lernen?

Bettina Parke: Mitbestimmung ist einfach wichtig, um sein eigenes Umfeld entsprechend gestalten zu können. Und wenn ich in der Schule, in der ich lebe und lerne, eben mitbestimme, wird es auch zu meiner Schule und zu meinem Raum.

Meyer: Und wenn Sie sagen, dass Sie auch Erfolge organisieren wollen für die Kinder bei Ihnen, was für eine Art Erfolge sind das? Geht das über Zensuren, worüber geht das?

Gravelaar: Kinder wollen etwas lernen. Also jedes Kind will sich anstrengen können und jedes Kind will etwas leisten. Und jedes Kind versucht, Höchstleistung zu erbringen. Und da braucht das Kind individuelle Rückmeldung. Und die geben wir dem Kind. Jetzt nicht in Form von Noten, sondern wir besprechen quasi mit dem Kind, wie es selbst seine Leistung einschätzt und wie wir das sehen. Wir besprechen mit dem Kind, welches neues Ziel es sich im Lernprozess setzen will. Und wir reden natürlich auch mit einem Kind darüber, wenn es eine Zeit lang eben halt nicht so viel leisten kann, und hinterfragen, wo die Ursachen liegen, um dann eben halt Lösungen zu finden.

Parke: Wichtig, finde ich, ist dabei auch noch, dass man an den Stärken ansetzt und das Kind über die eigenen Stärken stärkt, statt, wie immer wieder ja auch zu beobachten ist im Alltag, die Defizitbrille aufzusetzen.

Meyer: Können Sie uns, damit wir uns das besser vorstellen können, wie so ein typischer Unterrichtstag bei Ihnen aussieht für ein Kind, können Sie uns das beschreiben? In welchen Zeitabläufen findet das statt, mit welcher Begleitung?

Parke: Es gibt eine grobe Struktur bei uns an der Schule, und jede Klasse plant den Tag individuell. Das ist immer abhängig davon, wie die Klasse drauf ist, was ansteht, wie viel Zeit man für das Einzelne braucht. Und das, was in allen Klassen gemeinsam umgesetzt wird, ist die selbstgesteuerte Arbeit in Form des Wochenarbeitsplans. In der Regel beginnt der damit. Und die Kinder arbeiten an ihrem Vorhaben, in ihrer Geschwindigkeit, durch ihre Interessen geleitet, machen Pausen, so wie sie es brauchen. Das heißt, es kann auch sein, dass Kinder während der Wochenarbeitsplanzeit ihre Pause nehmen und andere arbeiten weiter.

Bei uns an der Schule gibt es auch keinen Schulgong. Das ist die Konsequenz. Wenn man individuell arbeitet, kann es nicht so sein, dass alle gleichzeitig Pause machen müssen.

Meyer: Eine Schule ohne Klingel also?

Parke: Genau. Und wir haben Projektphasen, in denen an bestimmten Themen, an denen alle arbeiten, geforscht und Projekte oder Produkte entwickelt werden. Es gibt individuelle Projektphasen, dass einige Kinder sich ein Thema vornehmen und dazu forschen.

Wir sind eine gebundene Ganztagsschule, das heißt, die Kinder bleiben bis 20 vor vier bei uns in der Schule. Wir essen zusammen. Bei uns gibt es keine Mensa, sondern die Kinder essen in ihren Lerngruppen zusammen, in ihren Klassenräumen. Die Tische werden eingedeckt, sodass es so wie auch im familiären Rahmen das Essen eben stattfindet an kleinen Tischgruppen, gemeinsame Gespräche laufen da. Das ist immer eine wunderbare Atmosphäre.

Meyer: Und der Unterricht geht bis in den Nachmittag hinein, oder gibt es da auch mal Freizeit dann?

Parke: Ja, wenn man sich anstrengt, braucht man natürlich auch die Entspannung. Und Entspannung haben die Kinder in der Regel am Vormittag eine Stunde und nach dem Mittagessen eine Stunde. Die nach dem Mittagessen heißt auch "Was ihr wollt"-Zeit und sagt eigentlich aus, was die Kinder da tun können, nämlich das, was sie wollen.

Meyer: Wenn ich Sie richtig verstehe, eigenverantwortliches Lernen, die Kinder verfolgen ihre eigenen Unterrichtspläne, das steht an erster Stelle?

Gravelaar: Zu uns in die Schule kommen ja die Kinder wirklich gerne. In der Grundschule wollen alle lernen. Und das greifen wir auf, das nutzen wir. Und ich glaube, dass wir das bis zum Ende des vierten Schuljahres damit aufrechterhalten, indem wir wirklich die Kinder begleiten, sie fragen, sie teilhaben lassen an ihrem eigenen Lernprozess. Nicht der Lehrer sagt, das ist jetzt das Richtige, das ist jetzt der nächste Lernschritt, sondern das Kind denkt mit und plant mit und setzt sich selbst Ziele. Und wir machen die Erfahrung, dass Kinder das wirklich ausgesprochen gut können, da sind sie richtige Profis.

Meyer: Ja, sagen Sie, welche Rolle spielt denn eigentlich der Lehrer bei Ihnen, wird der noch gebraucht?

Gravelaar: Ja, wir sind die Lernbegleiter und die Lernberater. Also der Lehrer steht nicht mehr so sehr im Vordergrund, sondern er ist eher im Gespräch mit dem Kind - im Gespräch darüber, was es lernen will, im Gespräch sicherlich auch darüber, was der Lehrer anbietet oder wo der Lehrer und die Lehrerin denkt, das könnte vielleicht ein nächster Schritt sein. Also man muss sich das wirklich so vorstellen, dass wir mit dem Kind im Dialog stehen, mündlich, aber auch schriftlich.

Meyer: Deutschlandradio Kultur, der Deutsche Schulpreis 2008 geht an die Wartburgschule in Münster, und ich spreche mit dem Schulleitungsteam, das heißt mit Gisela Gravelaar und mit Bettina Parke. Ist Ihre Schule eigentlich immer in dieser Form geführt worden, oder gab es auch andere Zeiten an dieser Schule und einen Schnitt, der notwendig war?

Gravelaar: Die Schule ist 1969 gegründet worden. 1979 ist dann so der erste größere Entwicklungsschritt passiert. Dort ist das Projekt Gievenbeck entwickelt worden, und die Stadt Münster mit der damaligen Konrektorin haben die gebundene Ganztagsschule ins Leben gerufen und aufgebaut. Das ist wissenschaftlich begleitet worden. Schon damals schrieb das Gründungskollegium die Kernsätze, die für uns heute immer noch Bedeutung haben, ins Schulprogramm, wie zum Beispiel Kinder brauchen Geborgenheit, Kinder sind verschieden, Kinder wollen etwas leisten, Kinder übernehmen Verantwortung. Ich könnte da jetzt noch weitere Ziele nennen.

Parke: Wir verstehen uns als lernende Schule, das heißt, wir könnten den Status quo nicht halten und sagen, wir ruhen uns darauf aus, sondern Schule muss sich immer in der Entwicklung befinden, und so ist das eben bei uns auch.

Meyer: Und wie lernen Sie?

Parke: Wir lernen dadurch, dass wir uns gemeinsam fortbilden, dass wir im Kollegium überlegen, was sollten die nächsten Schwerpunkte sein. Total hilfreich ist dabei, dass wir eine Steuergruppe haben, die aus Kollegen aller Schulhäuser -Hintergrund dazu: Wir sind eine vierzügige Schule, und die vier Züge sind in Hausform realisiert von der Architektur, deshalb spreche ich jetzt von Häusern -, also aus allen Häusern sind in der Steuergruppe Kollegen vertreten, von allen Professionen sind Kollegen mit dabei, das heißt also nicht nur Grundschullehrer, sondern eben auch Erzieher und Sonderschulpädagogen. Wir treffen uns regelmäßig und haben dadurch auch so eine gute Verbindung zwischen dem, was in der Schule passiert, und dem, wie Entwicklungen auch umgesetzt werden können. Das ist so ein Hin und Her. Die Steuergruppe trägt das ins Kollegium, das Kollegium trägt das über die Steuergruppe wieder zurück. Und das ist ein ständiger Prozess der Weiterentwicklung.

Meyer: In dieser Woche wurde ja die IGLU-Studie zu den Leseleistungen in der Grundschule veröffentlicht. Daraus ging hervor, dass die Grundschule eigentlich die erfolgreichste Schulform in Deutschland ist, auch wenn man sich die internationalen Rankings anschaut. Und daraus folgt nun eine Diskussion, sollte man diese Schule tatsächlich nach vier Jahren beenden, wie das ja fast überall in Deutschland üblich ist, oder sie vielleicht verlängern. Was halten Sie von einer Verlängerung der Grundschulzeit?

Gravelaar: Wir fänden es schon sehr sinnvoll, wenn die Schule deutlich länger wäre, auch bis Klasse 10. Wir machen schon die Erfahrung, dass der Übergang nach Klasse 4 viel zu früh ist, dass man wirkliche Prognosen für den Übergang in die weiterführende Schule erst deutlich später, frühestens ab Klasse 6 geben kann. Also wir plädieren schon dafür, dass die Kinder möglichst lange auf einer Schule sind. Wir denken, unser Prinzip, Kinder lernen voneinander, würde dann eben halt auch dort erfolgreich umgesetzt werden können. Und ich glaube, das ist schon etwas, wenn alle Kinder gemeinsam lernen, dass sie sich gegenseitig eben halt leistungsmäßig unterstützen können und dass insgesamt dadurch eine vielfältigere Bildung dabei rauskommt für die Kinder.

Parke: Außerdem ist die Heterogenität, finde ich, auch eine deutliche Chance, und wir bei uns an der Schule erhöhen die Heterogenität noch dadurch, dass wir jahrgangsgemischt arbeiten und dass wir den gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Handicap eben auch bei uns an der Schule haben.

Meyer: Bei der IGLU-Studie ist auch wieder die Diskussion aufgekommen, die kennen wir schon länger, diese ganzen Studien, die uns begleiten, IGLU, PISA, Timms und Co., die würden die Schüler zunehmend so als Versuchsobjekte anschauen, als Untersuchungsobjekte, und sie helfen den Schulen vielleicht gar nicht wirklich weiter. Wie beurteilen Sie dieses ganze Beurteilungsverfahren der deutschen Schulen, hilft das etwas?

Gravelaar: Wenn man Kinder jeden Tag mit dem Zentimetermaß misst, werden sie ja nicht größer. Und wir glauben, man braucht schon Rückmeldungen, dass man einschätzen kann, an welchen Stellen brauchen die Kinder weitere Unterstützung. Aber die Tests alleine bringen ja noch nicht einen besseren Unterricht hervor. Ich glaube, dass wir in regelmäßigen Abständen, wenn es qualitativ hochwertige Abfragen sind, dass das sinnvoll ist, aber ich glaube, dass wir diese Vielzahl der Tests, dass das letztlich uns in der Schule konkret nicht wirklich weiterbringt.

Meyer: Der Deutsche Schulpreis 2008 geht an die Wartburgschule in Münster. Ich habe mit dem Schulleitungsteam gesprochen, mit Gisela Gravelaar und Bettina Parke. Noch ein schönes Fest heute hier in Berlin und dann in Münster und vielen Dank für das Gespräch!

Gravelaar: Danke schön.

Parke: Danke.