Lehmann: Katholische Kirche sollte Kontakt mit Muslimen suchen

23.12.2006
Kardinal Karl Lehmann hat die katholische Kirche aufgefordert, mehr Kontakte mit Muslimen zu knüpfen. Gerade weil es schwer sei, repräsentative Ansprechpartner bei den Muslimen zu finden, müssten Katholiken den Dialog auch mit einzelnen Organisationen und Moscheen führen, sagte Lehmann.
Deutschlandradio Kultur: Herr Lehmann, an Weihnachten strömen die Menschen überall in die Kirchen. Während des Jahres bleiben die Gotteshäuser weitgehend leer. Ärgert Sie das?

Kardinal Karl Lehmann: Ich mache eine andere Erfahrung, wenn ich irgendwo hinkomme. Nicht, weil ich Bischof bin, sondern weil die Leute auch gerne feiern, da haben wir viele volle Kirchen. Auch im Dom können wir uns nicht beklagen am Sonntag. Natürlich ist Weihnachten ein Höhepunkt. Der Gottesdienstbesuch ist leider auch zurückgegangen, keine Frage. Als ich als Bischof vor 23 Jahren angefangen habe, waren es noch 20 Prozent im Bistum, jetzt sind es 14 Prozent. Das ist deutlich zu spüren. Da gibt es viele Faktoren. Aber wir spüren auch nach den Katastrophenfällen - Tsunami, 11. September -, dass die Menschen sofort in die Kirchen strömen, und nicht nur Weihnachen, sondern es sind auch andere Gelegenheiten, Weltjugendtag und Pastoralbesuch des Papstes in Bayern, die Leute sind dann doch sehr, sehr bereit.

Deutschlandradio Kultur: Heißt das, die Kirche funktioniert immer als Nothelfer?

Kardinal Karl Lehmann: Es wäre schlimm, wenn es so wäre, obwohl Not natürlich die Menschen beten lehrt und die Not den Menschen vielleicht auch manchmal etwas zur Besinnung bringt, wenn er vielleicht vieles vorher nicht mehr so gewusst hat. Aber wir sind natürlich auch für die Freuden des Lebens da und freuen uns, wenn etwas gelingt, wenn die Menschen vorwärts kommen - ob es Entdeckungen sind, ob Kinder auf die Welt kommen, wie auch immer, das gehört einfach dazu.

Deutschlandradio Kultur: Trotzdem gibt es ja schon über viele Jahre einen Trend, dass die Menschen der Kirche oder den Kirchen in Deutschland den Rücken kehren. Es sind Millionen, die in den letzten 15 Jahren die Kirche verlassen haben. Brauchen wir so etwas wie eine Missionsbewegung, damit die Menschen wieder den Zugang zur Kirche finden? Was können Sie den Menschen anbieten?

Kardinal Karl Lehmann: Alle Großorganisationen in unseren Gesellschaften haben es schwer, ob das die Gewerkschaften sind, sogar der Sport und überall. Wir haben jetzt auch Gott sei Dank eine kleine Trendwende in den letzten ein bis zwei Jahren. Mal sehen, ob die anhält, ob die aufrechterhalten werden kann.

Deutschlandradio Kultur: Wie sieht die aus?

Kardinal Karl Lehmann: Wir haben ein Drittel weniger Kirchenaustritte und ungefähr ein Drittel mehr Wiedereintritte oder auch Konversionen und verschiedene Zugänge anderer Art.

Deutschlandradio Kultur: Ich weiß, dass Sie bekennender Fußballfan sind. Bleiben wir im Bild: Vor Jahren haben Sie vielleicht 0:4 verloren, jetzt verlieren Sie 0:2, das ist ja immer noch nicht befriedigend, oder doch?

Kardinal Karl Lehmann: Nein, befriedigend ist das auf keinen Fall, deswegen kämpfen wir auch. Deswegen haben wir besonders seit dem Jahr 2000, aber eigentlich immer schon, eine Verstärkung des Akzentes "missionarisch Kirche sein". Wir haben durch Veröffentlichungen, Aktionen usf. versucht vieles ein bisschen aufzufangen.
Das vorbildliche Sterben und die Person von Johannes Paul II., die Wahl eines Papstes aus unserem Land, der Weltjugendtag, aber auch die Einweihung der Frauenkirche, das mutige Leben von Roger Schütz usf. in einem Jahr war eine große wichtige Hilfe. Wir wissen zwar, dass das alles so genannte Events sind, die dann unter Umständen auch schnell wieder verflogen sind, auch modisch werden können, aber gerade für Jugendpastoral haben wir doch eine ganze Menge in den Bistümern erreichen können. Das ist noch ein Tropfen auf den heißen Stein, aber schließlich geht vieles in kleinen Schritten. Wenn die nachhaltig sind, ist das ein Gewinn.
Ich glaube auch, dass wir natürlich eine gesellschaftliche Nachdenklichkeit in den letzten ein, zwei Jahren entdecken können. Nicht zufällig sind das Leute wie Habermas, die sagen, ja, war das eigentlich richtig, dass wir den Säkularisierungsprozess so vorbehaltlos bejaht haben? Haben wir uns genügend gefragt, wohin dieser Prozess eigentlich steuert? Man stellt sich die Frage: Hat vielleicht Religion mehr verborgene Werte in sich, die wir ja suchen, die wir allzu früh abgeschrieben haben?

Deutschlandradio Kultur: Woran denken Sie da?

Kardinal Karl Lehmann: Ich denke, dass ein englischer Religions- und Rechtsphilosoph z. B. sagt, "wir brauchen Werte, die den Menschen auch so viel zumuten, dass wir sie mit unseren Alltagswerten nicht erreichen können". Wir müssen z. B. auch Verzichte verkraften. Da, denke ich mir schon, hat Religion auch sehr viel mehr zum Funktionieren von Gesellschaft beigetragen, manchmal anonym, aber auch so, dass das nicht so eine Maschine ist, die immer von selbst läuft. Wenn der Glaube nicht verwurzelt ist, wenn er nicht gelebt wird, sterben diese Werte vielleicht nicht ab, aber sie werden kümmerlich und schwächlich. Von da aus glaube ich schon, dass es eine echte Nachdenklichkeit gibt. Die wollen wir natürlich dann auch entsprechend pflegen. Da bin ich durchaus zuversichtlich.

Deutschlandradio Kultur: Wenn Sie das so aufzählen, einerseits die großen religiösen Events, die Inszenierung von Kirche, die offensichtlich erfolgreich ist, andererseits zu sagen, man braucht das Fundament, man braucht Wurzeln, Bewusstsein im Grunde ja auch für die Regeln der Kirche, sind das nicht zwei Kontraste? Einerseits diese leichte Inszenierung und andererseits diese strengen Regeln, wo kann sich Kirche dazwischen platzieren?

Kardinal Karl Lehmann: Sie platziert sich eigentlich sehr gut in dieser Relation. Denn auf der einen Seite ist sie eine Gemeinschaft, die einfach auch ein Profil braucht, die auch Anforderungen stellt. Auf der anderen Seite sind wir aber nicht um unser selbst willen da, sondern für andere, und zwar auch weltkirchlich für andere, so dass das wie mit einem Baum ist. Der muss tief wurzeln. Dafür braucht er auch einen bestimmten Halt. Auf der anderen Seite, je weiter er die Zweige ausstreckt, umso mehr darf er auch nicht einfach bei jedem Wind schon modisch entwurzelt werden. Das ist natürlich ständig eine Spannung - auch in der Kirche selber, auch in jedem von uns -, dass man weiß, es braucht diese Balance immer wieder neu.

Deutschlandradio Kultur: Das ist auch der Streit. Einerseits gibt es ein Streben danach, mehr religiöses Bedürfnis zu befriedigen. Es gibt viele Gruppen, viele Angebote in dieser Richtung. Andererseits gibt es bereits die großen Kirchen, die immer weniger Zulauf haben.
Kardinal Karl Lehmann: Selbstverständlich ist die religiöse Pluralität gewachsen, nicht nur die gesellschaftliche. Es gibt auch viele so genannte "Bastel-Religionen", wo Menschen ihr eigenes religiöses Gebräu zusammenstellen. Aber auf die Dauer braucht der Einzelne mit seiner individuellen Religiosität auch den Anhalt an einer Gemeinschaft, ob kleiner oder größer, sonst zerfällt im Grunde genommen das eigene Modell sehr schnell. Es ist gut, gerade im Ethos Maßstäbe zu haben, die wirklich weltweit sind und nicht nur die eigene Lebenswelt betreffen.

Deutschlandradio Kultur: Werfen wir einen Blick auf die Kirchen in Deutschland, vielleicht eine Sondersituation im Vergleich zu anderen Ländern, wo Religiosität viel stärker im Kommen ist. Hier leben viele Atheisten, es gibt Muslime, es gibt Menschen, die an irgendwas glauben. Was kann denn der Kitt sein, der diese Gesellschaft zusammenhält? Früher war es vielleicht die christliche Tradition. Gilt das heute auch noch bei so einer Ausdifferenziertheit der Gesellschaft? Wie kriegen wir die Menschen zusammen?

Kardinal Karl Lehmann: Die kriegen wir natürlich nicht so zusammen, dass man sie auf einen Nenner bringt. Das kann nicht sein. Auf der einen Seite braucht es einfach den gesellschaftlichen Dialog, auch wenn das ein Wettbewerb ist, auch wenn das zugleich ein Streit ist, vielleicht ist da manches in der Ökumene auch manchmal zu friedlich. Das darf nicht heißen, dass in der Nacht alle Katzen gleich grau sind, man muss auch Farbe bekennen. Man braucht auch die Markierung des eigenen Standorts, sonst geht man in einer solchen Gesellschaft auch unter - aber natürlich nicht so, dass Fanatismus und das, was man Fundamentalismus nennt, dann überhand nehmen. Dann wäre das ein Verrat an der Offenheit von Kirche.

Deutschlandradio Kultur: Konkretes Beispiel: Islamkonferenz, da sagt der Bundesinnenminister: "Der Islam ist ein Teil Deutschlands." Der Bundespräsident sagt: "Das muslimische Leben ist Teil des deutschen Alltags." Ist das aus Ihrer Sicht so? Ist der Islam tatsächlich ein Teil des deutschen Alltags geworden?

Kardinal Karl Lehmann: Als ich die Sätze gehört habe, habe ich gedacht, das hängt natürlich auch mit dem Ziel der Veranstaltung zusammen, wo man die Gesprächspartner entsprechend als Teile unserer Gesellschaft begrüßt, aber der Wirklichkeit halten diese Aussagen nicht ganz stand. Denn große Teile des muslimischen Lebens vollziehen sich in Parallelgesellschaften, vollziehen sich im Verborgenen, auch in den Moscheen. Wir reden ja auch nicht mit unseren türkischen Nachbarn, wenn wir es könnten, schon. Also, für mich ist eigentlich die Frage, ob wir nicht vieles versäumt haben. Die Katholiken waren für die so genannten Gastarbeiter aus Portugal, Spanien, Italien und Kroatien zuständig. Die Evangelischen Kirchen für die Griechen und die anderen Orthodoxen, die Arbeiterwohlfahrt für die Türken. Schließlich gibt das zusammen nur ein vielleicht auch etwas gleichgültiges Nebeneinander.

Deutschlandradio Kultur: Sucht denn die Katholische Kirche jetzt verstärkt den Dialog, nachdem das auch von politischer Seite mehr gesehen wurde?

Kardinal Karl Lehmann: Wir haben natürlich mit den genannten Gruppierungen schon ganz schön viel zu tun gehabt. Wir haben immerhin in unserem Bistum 29 Gemeinden von Katholiken in einer anderen Muttersprache. Die sind in einem hohen Maß integriert, aber sie haben – Gott sei Dank – selbstverständlich in ihren Gemeinden auch noch ihre eigenen Gewohnheiten und Bräuche, ihre Folklore usf., ihre Musik und sind nicht einfach bodenlos und heimatlos. Das müsste man eigentlich noch sehr viel mehr auswerten und auch ein bisschen mehr damit auch werben. Ich denke, es geht mit den Muslimen langsamer. Das ist auch eine Frucht der Einsicht der letzten Monate. Die Reaktion auf die Regensburger Vorlesung des Papstes, die Ergebnisse der Reise in die Türkei haben gezeigt, es gibt zu einem dialogischen Miteinander keine Alternative, auf gar keinen Fall Gewalt.
Es gibt zweitens aber auch natürlich die Verführung, sich diesen Dialog viel zu harmlos und blauäugig vorzustellen. Das hat letzten Endes auch nichts gebracht.

Deutschlandradio Kultur: Ist der Dialog nicht mehr als eine Hilfestellung, um im Alltag zu Recht zu kommen?

Kardinal Karl Lehmann: Auf jeden Fall. Ich glaube, dass das gerade im Blick auf die Muslime gilt. Wir haben das Problem, dass wir uns zuweilen mit den Ansprechpartnern etwas schwer tun. Es ist halt so eine expandierende Gemeinde. Und die Organisationen, die es gibt, überschätzen sich zum Teil. So viel Repräsentationsgrad haben die oft gar nicht. Aber weil man keine anderen hat, ist man gerade auch von staatlicher Seite aus ganz froh, die instrumentell in Dienst nehmen zu können. Das ärgert wieder andere Gruppierungen. Ich glaube, da kommt es ehrlicherweise zunächst mal darauf an, dass man in der konkreten Lebenswelt Kontakte hat. Ich bin der Meinung, dass wir da auch als Kirche noch mehr versuchen müssen. Nur das wird uns nicht immer leicht gemacht. Wir haben hier in Mainz vier bis fünf Moscheen. Die sind mit Ausnahme von einer offensichtlich fast alle fundamentalistisch. Die Männer dürfen am Arbeitsplatz nicht reden. Frauen dürfen nicht allein einkaufen gehen. Mädchen dürfen nicht in die Schule. Das sind massive Hindernisse der Integration.
Deutschlandradio Kultur: Gibt es auch den Versuch, dass man grundsätzlich klärt, wo der gemeinsame Fundus zwischen Islam und christlicher Religion ist, auf dem man bauen kann? Oder müssen einzelne Religionen – in dem Fall vielleicht der Islam – noch beispielsweise die Gewaltfrage klären, bevor man tatsächlich auf Augenhöhe gemeinsam voranschreitet?

Kardinal Karl Lehmann: Ich glaube, da gibt es kein Vorher und Nachher, sondern nur ein gleichzeitiges Gespräch. Man darf ja auch nicht übersehen, dass bestimmt ein ganz, ganz hoher Prozentsatz der Muslime Leute sind, die am Freitag einfach einen Gottesdienst wollen. Die wollen gar nicht nicht politisch indoktriniert werden. Wir haben in der Bischofskonferenz auch eine Unterkommission für den Dialog mit den nichtchristlichen Religionen, speziell mit den Muslimen. Wir haben in Frankfurt St. Georgen einen Studiengang "Begegnung Christentum/Islam", damit unsere eigenen Leute kompetenter werden. Es ist einiges in Vorbereitung, aber es stellt sich natürlich auch die Frage, wie weit überhaupt Integration gelingen kann und muss, wenn man die eigene Religion, die eigene Position nicht gefährden oder preisgeben will. Wir kennen das Problem ja eigentlich schon jahrhunderte lang durch die Juden, die immer wieder zwischen Assimilation mit der Preisgabe des eigenen Profils in Spannung standen mit einem Lebensstil strenger Orthodoxer, der dann auch ein bisschen im Gegensatz zu der Gesellschaft stand, die hier mehrheitlich wohnte.

Deutschlandradio Kultur: Aber ist für den Alltag nicht auch entscheidend, wie der Diskurs der Religionen als theologischer Diskurs geführt wird? Wenn Sie das Verhältnis des Christentums zum Judentum nehmen, da sind die gemeinsamen Wurzeln, rein theologisch, viel klarer als jetzt mit dem Islam.

Kardinal Karl Lehmann: Das ist keine Frage. Aber man sollte auch nicht vergessen, dass es wenigstens partiell mit dem Islam Anknüpfungspunkte gibt.

Deutschlandradio Kultur: Werden sehen die aus? Ich habe das Gefühl, jeder pocht auf seinen Wahrheitsanspruch und damit ist auch schnell Schluss mit dem Diskurs.

Kardinal Karl Lehmann: Ich kann mir vorstellen, dass es sehr fruchtbar ist, z. B. mal darüber zu reden, was Abraham für die verschiedenen Religionen bedeutet. Abraham kommt nach meiner Zählung 48 mal im Koran vor, die Mutter Gottes, Jesus, die Propheten spielen eine sehr, sehr große Rolle. Aber es gibt natürlich eine ganz harte Grenze. Etwa die Aussage, dass Jesus Sohn Gottes ist, das ist für die eine Blasphemie. Aber das kann man ja nur bewältigen, und dann vielleicht auch mal stehen lassen, wenn man zuerst mal das große Gemeinsame tatsächlich sieht – und das gibt es zweifellos.

Deutschlandradio Kultur: Spätestens seit den Anschlägen auf das World-Trade-Center hat man den Eindruck, dass sehr viel Hoffnung in diesen Dialog der Religionen hineingelegt wurde, auch von Seiten der Politik. Gibt es dabei eine Trennungslinie, wo Sie sagen, da können wir nicht mehr mitmachen, das ist Aufgabe der Politik? Dies muss die Politik lösen und hier kann die Kirche einen Beitrag leisten, aber die Kirche ist nicht diejenige, die die Lösung wie das Kaninchen aus dem Hut ziehen kann.

Kardinal Karl Lehmann: Das geht auf jeden Fall, schon aus Gründen einer Selbstüberschätzung, nicht. Aber zu der Frage, wo ist unser Platz, was kann die Kirche tun? Es gibt nicht nur Bereitschaft zum Dialog, sondern es gibt auch noch eine Überwindung von Barrieren und von Vorurteilen ganz massivster Art, die den Zugang zum Dialog blockieren. Ich glaube an die Vernunft im Menschen. Ich glaube auch, dass diese Vernunft letzten Endes unbesiegbar ist durch noch so viele Dinge hindurch. Deswegen möchte ich nicht aufgeben, dass es diesen Dialog geben muss.

Deutschlandradio Kultur: Es ist auch eine große Erziehungsaufgabe. Man könnte sagen, man muss verstärkt da in den Schulen reingehen. Jetzt gibt es aber eine Äußerung vom Kölner Erzbischof Meißner, der sich gegen multireligiöse Feiern in Schulen ausspricht, der dies ablehnt.

Kardinal Karl Lehmann: Ablehnen müssen wir, dass an die Stelle von kirchlichen Gottesdiensten in unseren Schulen für die Kinder, die in der Religion beheimatet sind, multireligiöse Feiern treten. Ablehnen müssen wir auch, dass die Schulleitungen das organisieren. Das ist nicht deren Aufgabe. Aber, wenn gesichert ist, dass die Kinder in ihrer angestammten Religion Gottesdienste haben und wirklich auch ihre eigene Religion kennen lernen, dann ist durchaus einsehbar, dass es auch Gottesdienste zusammen geben kann.
Die einen sagen, ja, es gibt einen gemeinsamen Gottesdienst in dem Sinne, dass die verschiedenen kirchlichen Gruppen ihre Gebete in Gegenwart der anderen vortragen und dass es eine gewisse Gemeinsamkeit gibt, aber es geht nicht so, das vertritt die zweite Gruppe, dass es auch gemeinsame Texte sind. Selbstverständlich kann es unter diesen Voraussetzungen auch multireligiöse Feiern geben. Das wollte Kardinal Meißner mit Sicherheit auch nicht in Abrede stellen. Denn wir haben einen entsprechenden Beschluss, der unter seiner Mitwirkung zustande kam und auch ein eigenes Heft mit Empfehlungen für die Gestaltung von solchen multireligiösen Feiern. Aber so eine religiöse Mischmasch-Kultur, die unverbindlich ist, wollen wir natürlich nicht.

Deutschlandradio Kultur: Wenn ich Ihnen so zuhöre, denke ich immer: Es geht zum einen ja wirklich darum, das Eigene zu bewahren, eine eigene Identität zu schaffen. Andererseits will man an der Grenze oder in der Begegnung mit den anderen Kulturen und Religionen eine Offenheit signalisieren. Jetzt hat diese Offenheit natürlich auch wieder ihre Grenzen. Fühlen Sie sich da nicht sehr zerrissen?

Kardinal Karl Lehmann: Nein, einfach deshalb nicht, weil das eigentlich mit der Definition des Katholischen im umfassendsten Sinne mitgegeben ist. Da gehören Profil und Offenheit zugleich einfach dazu. Selbstverständlich schließt das nicht Pluralität und Toleranz auch nach innen aus. Insofern ist diese Spannung eigentlich gegeben. Ich denke mir, die bringt auch immer wieder fruchtbar vieles neu, wo man sich dann auch an neuen Phänomenen abarbeiten muss. Ob das jetzt die kulturelle Integration ist oder ob das die Globalisierung ist, wir kommen daran einfach nicht vorbei. Das gehört einfach zur Lebendigkeit einer Kirche, dass sie sich auf diese notwendigen Auseinandersetzungen einlässt. Ich empfinde das auch als einen guten Zwang zu schöpferischer Auseinandersetzung.

Deutschlandradio Kultur: Wo ist Ihre schöpferische Auseinandersetzung, wenn Sie in Deutschland auf Arbeits- und Sozialpolitik blicken? Wo sehen Sie da die größte Herausforderung?

Kardinal Karl Lehmann: Die größte Herausforderung ist, dass wir ein stückweit umdenken müssen, was uns ungeheuer schwer fällt. Zu unserem Staat und unserem Zusammenleben gehört selbstverständlich auch, dass wir ein sozialer Rechtsstaat sind. Sozialstaat kommt im Grundgesetz nicht vor, aber wir sind einer. Da gibt es auch eine Sozialkultur, die gewachsen ist, nicht nur bei uns in Mitteleuropa, sondern auch in anderen Ländern. Im Grunde haben die Arbeitnehmer zu einem ganz hohen Teil auch mit den Gewerkschaften durch ihre Disziplin und durch manche Verzichte in Jahrzehnten unseren Staat mitgestaltet. Diese Sozialkultur ist einfach etwas Wichtiges.
Nur hat es einfach auch Leistungen des Sozialstaates gegeben, die wir in dieser da und dort überbordenden Form einfach nicht mehr so halten können. Um den Sozialstaat überhaupt zu retten, braucht es einfach einige Änderungen. Ich setzte – mindestens im Prinzip – darauf, dass wir mehr Eigenverantwortung von den Menschen verlangen können und verlangen müssen, aber nicht so, dass wir nicht offen genug gegenüber Lebenssituationen sind, wo der Einzelne sich aus eigenen Kräften, auch wenn er in Arbeit ist, nicht einfach helfen kann.

Deutschlandradio Kultur: Wir wissen aber auch, wenn man die Statistik betrachtet, dass in den letzten Jahren – auch unter Rot-Grün – die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander gegangen ist. Haben wir eigentlich in Deutschland ein Armutsproblem oder ein Verteilungsproblem?

Kardinal Karl Lehmann: Es waren ja die Kirchen, die mit dem Sozialwort von 1997 einen Armuts- und einen Reichtumsbericht verlangt haben. Gott sei Dank gibt es jetzt beides – nach zehn Jahren. Das ist schon auch mal eine gute Erfahrung. Ich denke mir, schon auch aus den täglichen Beobachtungen heraus, dass die Schere weiter auseinander klafft. Es gibt eine verschämte Armut, über die man nicht gerne spricht. Ich glaube, dass man dieser Not mit neuen Gesichtern noch zu wenig nachgeht. Aber das wird nicht so schnell gehen.

Deutschlandradio Kultur: Aber nicht mit mehr Suppenküchen, oder doch?

Kardinal Karl Lehmann: Nein, mit Sicherheit wird es notwendig sein, ganz andere Bildungsinvestitionen zu machen, damit die Leute dann auch fähig sind, heute differenzierte Berufe auszuüben und anzunehmen.

Deutschlandradio Kultur: Herr Lehmann, wir sind einen Tag vor Heilig Abend. Noch eine ganz persönliche Frage: Was steht auf Ihrem Wunschzettel ganz oben?

Kardinal Karl Lehmann: Auf meinem Wunschzettel steht ganz oben zunächst einmal, wenn ich in die Welt hinein schaue, die grausame Erfahrung, dass im Lande, wo Jesus geboren ist, nach den Auseinandersetzungen der letzten Monate auch im Libanon immer noch ein fürchterlicher Unfriede herrscht, nicht weit davon diese verzweifelte Situation im Irak – da hoffe ich, dass es mit vereinten Kräften im neuen Jahr doch endlich gelingt, ein bisschen vorwärts zu kommen. Das wird ja immer auf dem Rücken der Ärmsten der Armen ausgetragen. Und mein Wunsch, der sich dazu gesellt, ist, dass wir ein bisschen eine Chance haben von der EU-Ratspräsidentschaft her, dass wir Europäer da auch etwas mehr in dieser Richtung beitragen und etwas fantasievoller sind. Ich denke, dass wir als Kirche da auch selbstverständlich irgendwo mit dabei sind.

Deutschlandradio Kultur: Und wünschen Sie sich auch etwas ganz Konkretes vom Papst, wenn man sich vom Papst überhaupt was wünschen darf?

Kardinal Karl Lehmann: Vom Papst wünsche ich mir, dass er eine ermutigende Verkündigung des Geheimnisses von Weihnachten versucht. Dasselbe werde ich auch versuchen.

Deutschlandradio Kultur: Kardinal Lehmann, herzlichen Dank für das Gespräch und ein friedvolles Weihnachtsfest.

Kardinal Karl Lehmann: Das wünsche ich Ihnen ganz besonders.