Lebensrettendes Signal

Von Ingo Kottkamp · 03.10.2006
Der internationale Seenotruf SOS wird häufig als Abkürzung von "save our souls!" erklärt. Doch in Wahrheit wurde die Zeichenfolge schlicht deshalb gewählt, weil sie sich leicht aus anderen Signalen heraushören lässt. Vor 100 Jahren wurde sie auf der Welt-Funkkonferenz für international verbindlich erklärt.
Wer sich schon einmal gefragt hat, warum drahtlose Kommunikation eigentlich Funk heißt, der sieht sich zurückversetzt in eine Zeit der Tüftler und Bastler. Lange Zeit hielten elektrische Funken das Äthergespräch in Gang. Sie produzierten eine kurzfristige Schwingung im elektromagnetischen Spektrum, die vom Empfänger als dumpfer, verrauschter Impuls zu hören war. Damals dachte noch niemand an Rundfunk, wohl aber an Funkentelegrafie.

"Meine Herren! Ich schätze mich glücklich, heute die Gelegenheit zu haben, eine so auserwählte Versammlung von Vertretern der hohen Regierungen aus fast allen Teilen der Welt begrüßen zu können, die die Güte gehabt haben, unserem Aufrufe zur Mitarbeit an einem äußerst wichtigen internationalen Werke der Zivilisation zu entsprechen."

Als Reinhold Kraetke, der deutsche Staatssekretär im Reichspostministerium, am 3. Oktober 1906 die Weltfunkkonferenz im Berliner Reichstag eröffnete, beschwor er die internationale Verständigung. Tatsächlich war die Stimmung aber gereizt. Eine amerikanische Geschichte des Navy-Funks berichtet über die Konferenz:

"Es war von Anfang an klar, dass Staaten wie Großbritannien und Italien den deutschen Vorschlägen nicht zustimmen würden. Sie standen ja bereits in Vertragsverpflichtungen mit der Marconigesellschaft, durften nur deren Ausrüstung verwenden und keine Nachrichten mit Funkstationen einer anderen Gesellschaft austauschen."

Diese deutschen Vorschläge zielten darauf ab, dass Funkstationen miteinander kommunizieren sollten, egal, von welcher Firma sie gebaut waren. Denn die Welt des Funks war gespalten. Auf der einen Seite stand die von einem Italiener gegründete, aber in britischen Händen liegende Marconigesellschaft. Sie ging auf Guglielmo Marconi zurück, den Mann, der im Garten seines reichen Elterhauses Funkanlagen zusammenbastelte, um dann internationale Kontakte zu Militär und Industrie zu knüpfen. Auf der anderen Seite stand die deutsche Telefunken. Auch sie baute Fernmeldesysteme und drängte auf den Markt. Die Spaltung reichte so weit, dass Schiffe mit Marconifunk auch ein eigenes Notrufsignal hatten.

CQD - CQ war der Standardruf, wenn an alle umliegenden Stationen gefunkt wurde. "D" stand für "Distress", also Not. Doch weil das CQ auch in vielen anderen Botschaften vorkam, galt dieser Ruf als nicht auffällig genug. Deutsche Schiffe in Seenot funkten in der Regel SOE.

Das Signal war einfach eine Vereinbarung, keine Abkürzung. Das Zeichen für E - einmal kurz - konnte aber im Funkverkehr leicht untergehen. Für den Notruf fand die Weltfunkkonferenz eine Lösung.

"Schiffe in Seenot benutzen das folgende Signal. Es wird in kurzen Abständen wiederholt."

SOS stand nicht für "save our souls!", es war einfach eine besonders einprägsame Morsefolge. Erst einige Jahre später setzte sich diese Bestimmung auch in der Praxis durch. Bei einem anderen Punkt aber blieben die mit Marconi verbundenen Staaten hart. Ihre Maßgabe: Schiffe auf der ganzen Welt sollten ausschließlich mit Marconis Anlagen funken und andere Systeme schlichtweg ignorieren. Diesem Kartell, in das die britische Regierung involviert war, standen neben der deutschen Telefunken auch aufstrebende amerikanische Firmen gegenüber. Es soll laut geworden sein im Sitzungssaal des Reichstages - doch am Ende hieß es in der "Berliner Morgenpost" vom 4. November 1906:

"Von der Interkommunikationspflicht (d.h. der Pflicht zum Nachrichtenaustausch ohne Rücksicht auf das telegraphische System) für den Nachrichtendienst von Schiff zu Schiff haben sich England, Italien und andere Staaten, in denen die Marconigesellschaft dominiert, ausgeschlossen, und es ist daher eine vollständige Gemeinschaft für die drahtlose Telegraphie nicht erreicht worden."

Erst Jahre später, nach einem zermürbenden Prozesskrieg um Funkpatente, einigten sich die Kontrahenten. Eines hatte sich bei diesem Streit gezeigt: Die Funkentelegraphie war nicht der grenzüberschreitende Friedensbote, zu der sie damals gern verklärt wurde. Nach außen hin, in der Eröffnungsrede, predigte man weltweite drahtlose Verständigung. Innen aber, hinter verschlossenen Konferenztüren, galten die Funkwellen als Medium der politischen Einflussnahme: Es ging um Militär, Geld und Macht.