Lebenslügen

Von Cora Stephan · 19.08.2007
Für jede Parole findet sich mindestens ein manipulierter oder manipulierbarer Datenbestand. Das jüngste Beispiel für die missbräuchliche Verallgemeinerung unzureichender Daten betrifft ein Thema mit besonders hohem Erregungspotenzial: die Geburtenrate und ihr tendenzieller Fall, aus dem auf das Aussterben der Deutschen oder wenigstens auf die allmähliche Vergreisung des Landes geschlossen wurde. Die Schuldigen dafür waren schnell gefunden: fast die Hälfte der Akademikerinnen, hieß es immer wieder, bleiben kinderlos.
Also die seelenlosen Karrierefrauen, die strahlende Kinderaugen und Muttiglück mit Apfelkuchen für den schnöden Mammon hintanstellen, Egoistinnen, die man folglich mit gesalzenen Herdprämien wieder zurückführen muss zu ihrer wahren Bestimmung?

Alles Käse, weiß man mittlerweile. All diese Behauptungen fußten auf einem dürftigen Datenmaterial. Aus einem seltsamen Verständnis von Diskretion heraus nämlich haben unsere Statistiker nicht danach gefragt, wie viel Kinder eine Frau tatsächlich hat, sondern wie viele minderjährige Kinder im Haushalt von Frauen leben, die jünger als 40 sind. So macht man aus Wirklichkeitsfremdheit Politik.

Im gleichen Dämmer der Mutmaßung liegen Fragen, die das Altersniveau unserer Gesellschaft betrifft – und alles, was daraus folgt. Zwar hat die Werbung mittlerweile begriffen, dass Älterwerden ein facettenreicher Prozess ist und die Angehörigen der Generation 50plus keineswegs nur als Konsumenten von Inkontinenzeinlagen interessant ist. Aber es liegt ein weites Feld zwischen den Zerrbildern der unendlich fitten Lustgreise auf der einen und den dementen Insassen von Altersheimen auf der anderen Seite.

Nur nebenbei: selbst Hochbetagte bevölkern zu weit unter zehn Prozent die Altenheime, und obwohl die Wahrscheinlichkeit mit dem Alter wächst, an Demenz zu erkranken, trifft es nach wie vor nur eine Minderheit. Und diese Minderheit wird noch immer zumeist zu Hause versorgt – von den Angehörigen, meistens von Frauen: den Töchtern, darunter mit hoher Wahrscheinlichkeit kinderlose Akademikerinnen. Von deren Leistung ist selten die Rede, sie verfügen ja auch nicht, wie professionelle Pflegedienste, über eine entsprechend lautstarke Lobby.

Was indes völlig ausgeblendet bleibt, ist das, was sich zwischen den Extremen abspielt. Ältere Menschen sind nicht entweder fit oder altersschwach, es gibt zahllose Abstufungen zwischen Selbstversorgung und Hilfsbedürftigkeit. Vielleicht brauchen sie nur Hilfe beim Einkaufen oder im Haushalt oder bei der Steuererklärung. Auch dafür sind die Angehörigen da und die meisten halten all das für selbstverständlich, selbst wenn es viele Stunden in vielen Jahren in Anspruch nimmt.

Dass auch hier eine Last zusammenkommen kann, die insbesondere die Sandwichgeneration betrifft, also diejenigen, die sich zwischen der Kinderversorgung und dem Kümmern um die Eltern aufreiben, hat sich zwar herumgesprochen. Von einem angemessenen Umgang damit aber kann keine Rede sein. Dabei lässt sich das Thema nicht mehr lange umgehen.

Der Schlüssel sind die Frauen. Der nahende Mangel an qualifizierten Mitarbeitern lässt Unternehmen jetzt schon um Frauen werben – und mit hierzulande unbekannter Voraussicht bieten einige kanadische Unternehmen an, während der Arbeitszeit nicht nur die Kinder, sondern auch die alten Eltern der Mitarbeiter zu betreuen.

Nun, das Krippenmodell werden sich die Alten nicht bieten lassen. Aber der Versuch wirft ein Schlaglicht auf das Problem: dass die "Sandwichgeneration" im Extremfall Kinder und Eltern zugleich versorgen muss. Deshalb ist hier der Bedarf an privater Betreuung groß. Längst helfen in vielen deutschen Haushalten osteuropäische Frauen zu Löhnen, die sich für die einen noch lohnen und die sich die anderen noch leisten können. Als ein paar clevere Unternehmer diesen bislang mehr oder weniger legal gepflegten Brauch institutionalisieren wollten, war das Geschrei der Lobbyisten groß.

Die einen schoben die Sorge um ausgebeutete polnische Frauen in den Vordergrund, die anderen wetterten über unfaire Konkurrenz für deutsche Arbeitssuchende. Von letzterem kann nicht die Rede sein. Die sozialstaatlichen Leistungen sind hierzulande oft so hoch, dass es sich für ihre Bezieher nicht lohnt, Dienstleistungen auf jenem Preisniveau anzubieten, das sich Durchschnittserwerbtätige leisten können. Von deren Steuern das im Übrigen alles bezahlt wird.

Steuerliche Begünstigung privater Haushaltshilfen könnte helfen, aber dagegen hat einst die SPD mit dem Schimpfwort "Dienstmädchenprivileg" polemisiert. Das sitzt. Und so wird das Spiel wie gehabt weitergehen. Wo keiner an lebensnahen Lösungen interessiert ist, gedeiht die Parole. Die nächste wird nicht lange auf sich warten lassen.

Die Frankfurter Publizistin und Buchautorin Cora Stephan, Jahrgang 1951, ist promovierte Politikwissenschaftlerin. Von 1976 bis 1984 war sie Lehrbeauftragte an der Johann Wolfgang von Goethe Universität und Kulturredakteurin beim Hessischen Rundfunk. Von 1985 bis 1987 arbeitete sie im Bonner Büro des "Spiegel". Zuletzt veröffentlichte sie "Der Betroffenheitskult. Eine politische Sittengeschichte", "Die neue Etikette" und "Das Handwerk des Krieges".