Lebensgefährliche Schicksalsgemeinschaft

Von Hartwig Tegeler · 26.12.2012
In seinem neuen Film begleitet Ang Lee einen jungen Mann auf einer existenziellen Irrfahrt an Bord eines Rettungsbootes, das er sich mit einem bengalischen Tiger teilen muss. Und Malik Bendjelloul zeichnet die bemerkenswerte Geschichte des Singer-Songwriters Sixto Rodriguez nach.
Aufgewachsen ist Pi in einem Zoo. Und da lernte er Richard Parker, den Tiger, kennen. Dessen dunkle Seite, dessen eigentliches Wesen, wie Pis Vater meint:

Vater: "Nein, was denkst du dir eigentlich. Bist du verrückt geworden? Du denkst, der Tiger ist dein Freund! Er ist ein Raubtier. Kein Spielkamerad."
Pi: "Ja, aber Tiere haben auch Seelen, das habe ich in ihren Augen gesehen."

Beide, der Vater, wie der Sohn, werden Recht behalten, doch, um das zu erkennen, muss Pi das Abenteuer seines Lebens überstehen. Denn nur der 17-Jährige wird die Schiffsreise überleben, die der Zoodirektor mit Familie und einigen seiner Tiere unternimmt. Genauer gesagt: Ang Lee erzählt in seinem 3D-Film "Life of Pi" zu deutsch: "Pi - Schiffbruch mit Tiger" (so der Untertitel des Films), von Pis Irrfahrt im Rettungsboot zusammen mit dem bengalischen Tiger Richard Parker. Eine lebensgefährliche Schicksalsgemeinschaft:

"Ohne Richard Parker wäre ich schon tot. Durch meine Angst vor ihm bleibe ich wachsam. Mich um ihn zu kümmern, gibt meinem Leben einen Sinn."

"Schiffbruch mit Tiger" spielt zu mehr als zwei Dritteln auf dem Rettungsboot und dem angehängten selbstgebauten Floß, auf das Pi immer wieder vor der Raubkatze flüchten muss, um dann doch für beide die Fische zu fangen. Ang Lee erzählt vom Überleben und dem Reifungsprozess des jungen Mannes in faszinierenden Bildern. "Schiffbruch mit Tiger" ist eine spirituelle Parabel, denn schließlich sucht Pi während des ganzen Films nach Gott. Das Leben ist für Ang Lee allerdings kein Streichelzoo, was nicht heisst, dass einer wie Pi, der sucht, in den Augen dieses Tigers nicht dessen Seele finden würde. Um vielleicht im nächsten Moment von Richard Parker gefressen zu werden.

"Schiffbruch mit Tiger" erzählt vom Erlangen spiritueller Freiheit in einer extremen Grenzsituation. Die Reflexion von Freiheit und Unfreiheit steht - ganz anders natürlich - auch im Mittelpunkt von "Cäsar muss sterben", dem Film der Gebrüder Taviani über eine Theateraufführung von Shakespeares "Julius Cäsar" durch Gefängnisinsassen. Und natürlich geht es auch in Peter Sehrs und Marie Noëlles Monumentalporträt über "Ludwig II." um das Gefangensein, das in der Hofetikette, was allerdings im Vergleich zu Viscontis-Ludwig-Film von 1972 eine etwas biedere Adaption bleibt. Und dann ist da noch die Geschichte eines Musikers, die am Ende - wenn ich richtig sehe - auch von Freiheit handelt.

Es war einmal... ein Musiker... gefeiert wie Bob Dylan und Elivs Presley. Allerdings nur in Südafrika. Da wurden die Songs von Sixto Rodriguez, dem mexikanisch-stämmigen Singer-Songwriter aus Detroit, zu Hymnen der Weißen in der Anti-Apartheid-Bewegung. Eine einzige Platte von Rodriguez kam nach Südafrika, wie genau weiß keiner mehr, wurde immer wieder kopiert, und entfalteten eine ungeheure Wirkung.

Rodriguez Songs mit ihren bitteren Klagen waren unsere! Erinnert sich der weisse Südafrikaner Stephen Segerman; aber wir wussten nichts über ihn, nur, dass er sich angeblich auf der Bühne umgebracht hat. Ach ja, die Mythen! In den USA hingegen wusste niemand, auch Sixto Rodriguez nicht, dass er da, am anderen Ende der Welt, ein Star war. Das wäre auch so geblieben, hätten sich zwei südafrikanische Musik-Freaks nicht auf die Suche nach ihm gemacht um festzustellen, dass Rodriguez als Bauarbeiter in Detroit lebt. Malik Bendjellouls Dokumentation "Searching for Sugar Man" rekonstruiert diese Suche. Höhepunkt des Films ist das erste Konzert von Rodriguez Ende der 1990er Jahre, auf dem Tausende von jungen weissen Südafrikanern seine Songs Zeile für Zeile mitsingen.

""Thank you for keeping me alive."

Danke, dass ihr mich am Leben gehalten habt, ruft Rodriguez von der Bühne. Und dann ist da noch dieses Interview im Zentrum von "Searching for Sugar Man" mit dem alten Rodriguez, der zurückhaltend, fast schüchtern wirkt. Wie war das, nichts von diesem Erfolg in Südafrika gewusst zu haben, was ja möglicherweise Ihr Leben fundamental verbessert hätte, fragt Filmemacher Malik Bendjelloul. Keine Ahnung, ob es besser gewesen wäre, antwortet Rodriguez, der weiterhin wie seit 40 Jahren im gleichen Haus in Detroit wohnt.

Das Schöne an Malik Bendjellouls Film "Searching for Sugar Man", dieser unglaublichen Geschichte, ist das Gefühl, dass wir viel über Rodriguez erfahren haben, auch wie er von seinem US-Produzenten betrogen wurde, wir hören viele seiner Songs, die jetzt übrigens wieder auf CD herausgekommen sind, und trotzdem - dieses Paradoxon macht "Searching for Sugar Man" zu einem wunderbaren Film. Trotzdem bleibt Sixto Rodriguez am Ende ein geheimnisvoller Mann, der vor allem Gelassenheit und Gleichmut ausstrahlt. Hat auch etwas mit Freiheit zu tun.


Life of Pi USA 2012, Regie: Ang Lee - Darsteller: Suraj Sharma, Irrfan Khan u. a., 125 Minuten, freigegeben ab zwölf Jahren

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Searching for Sugar Man Schweden und Großbritannien 2012, Regie: Malik Bendjelloul - Darsteller: Sixto Rodriguez, Stephen "Sugar" Segerman, Craig Bartholomew-Strydom u. a., 85 Minuten, freigegeben ohne Altersbeschränkung

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