Lebendes Gesamtkunstwerk

Ulrike Münter und Andreas Schmid im Gespräch mit Klaus Pokatzky · 12.10.2009
Ai Weiwei gehört zu den bekanntesten chinesischen Künstlern im Westen. Gleichwohl sei er nicht der bedeutendste, meint die Kunstkritikerin Ulrike Münter. Die Konzentration der Medien auf Ai Weiwei blende viele andere chinesische Künstler von Rang aus, kritisiert der Künstler Andreas Schmid.
Klaus Pokatzky: Ai Weiwei ist wohl bei uns der bekannteste Künstler Chinas, denn er ist auch ein bekannter chinesischer Dissident, ein Opfer der chinesischen Behörden und des Polizeiapparates. Ab heute gibt es von Ai Weiwei eine Ausstellung in München unter dem Titel "So Sorry". Und wir wollen da fragen, ob der bei uns bekannteste Künstler Chinas auch der bedeutendste Künstler Chinas ist.

(…)

Im Studio begrüße ich nun die Kunsthistorikerin Ulrike Münter und Andreas Schmid, der Künstler und Kurator ist. Greifen wir die Frage aus dem Beitrag von Anja Mauruschat auf, Ulrike Münter: Ist das, was Ai Weiwei macht, Kunst, ist es Punk, ist es eine Internetrevolution?

Ulrike Münter: Wer gestern bei der Eröffnungsveranstaltung in München dabei war, wird die Frage eindeutig so beantworten, dass das, was Ai Weiwei macht, alles ist, und dass eigentlich die Begriffe, die Frau Mauruschat ins Spiel gebracht hat, zutreffend sind, um dieses Universum oder dieses Gesamtkunstwerk Ai Weiweis zu beschreiben. Das fasst Frau Mauruschat da sehr gut zusammen.

Pokatzky: Das heißt, er selber ist auch ein wandelndes Gesamtkunstwerk, und wenn Sie sagen, er ist alles, kommt dabei jetzt auch die Frage: Ist er auch ein bedeutender Künstler?

Münter: Sicherlich ist er auch ein bedeutender Künstler, aber ich würde diese Position relativieren, er ist auf jeden Fall nicht der bedeutendste Künstler Chinas. Wenn man also an die chinesische Kunst denkt, auch im innerchinesischen Kontext, nicht nur aus der westlichen Perspektive, muss man auf jeden Fall andere Namen vor Ai Weiwei einsortieren. Und in den Künstlerrankings, die in China unter Kennern kursieren, ist Ai Weiwei nicht unter den ersten zehn Künstlern. Das müssen wir hier vielleicht mal wahrnehmen.

Pokatzky: Andreas Schmid, Sie sind ein großer Kenner der zeitgenössischen Kunstszene Chinas, Sie haben selbst in China gelebt. Sie haben 1993 die erste große Ausstellung chinesischer Gegenwartskunst im Haus der Kulturen der Welt in Berlin als Kurator gestaltet. Wer sind denn dann die größten chinesischen Künstler, die an uns, dem kunstinteressierten Laien, vielleicht völlig vorbeigehen?

Andreas Schmid: Ich muss zunächst einmal die Rangfolgen immer ablehnen, weil mir das nicht liegt, ein Leistungsverzeichnis da aufzustellen. Aber was man sagen kann, ist, dass es in diesem Riesenland natürlich eine unglaubliche Konzentration auch von hervorragenden Künstlerinnen und Künstlern gibt und es auch schon gab, als ich diese Ausstellung zusammen mit Hans van Dijk und Jochen Noth für das Haus der Kulturen der Welt gemacht habe.

Pokatzky: Vor 16 Jahren.

Schmid: Vor 16 Jahren schon. Ich nenne nur, aber nur beispielhaft, ein paar Namen, von denen ich mir wünschen würde, dass sie hier präsenter wären: Das sind der Filmemacher Yang Fudong, auch ein Documenta-Teilnehmer und trotzdem in der Allgemeinheit nicht so bekannt, Zhang Peili, ein Videokünstler, ???, der immerhin hier mal am Ostasiatischen Museum ausgestellt hat, ??? und ??? oder ??? - da gibt es eine ganze Reihe von Künstlern aus unterschiedlichen Generationen.

Pokatzky: Warum kennen wir die hier so überhaupt gar nicht? Warum ist Ai Weiwei, wie es die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" jetzt formuliert hat, "unser unangefochtener Lieblingschinese", die Zentralgestalt, an der keiner vorbeikommt, der sich als Westler mit Chinas Gesellschaft, Kunst und neuerdings auch Architektur beschäftigt? Warum ist das so, Frau Münter?

Münter: Diese Frage muss man wahrscheinlich wirklich auch in Richtung Westen stellen. Also die Position, die Ai Weiwei da von uns zugedacht bekommen hat oder für die wir gesorgt haben, dafür sind die westlichen Medien verantwortlich. Und man kann dieses Bedürfnis nach Klarheit und Ordnung und Übersichtlichkeit natürlich verstehen. Dieses Land ist unübersichtlich, die Kunstszene prickelt vor Kreativität nach dem Tode Maos, kann man sich vorstellen, es war kein künstlerischer Ausdruck möglich. Sobald Mao gestorben war, ging das los in dieser Kunstszene, und wir kriegen da keinen Durchblick.

Und auf einmal wird uns ein Name, der noch relativ leicht auszusprechen ist im Vergleich zu anderen Namen, präsentiert, der es ganz schnell geschafft, über die Zeit in New York auch viele Sponsoren zu bekommen, viele wichtige Namen hinter sich zu sortieren. Und das hat zu dieser Sonderstellung geführt.

Schmid: Würde ich noch ergänzen, dass das in den westlichen Medien mir zu oft auf den politischen Hintergrund ankommt. Es heißt nämlich nicht, dass Ai Weiwei der Einzige wäre oder ist, der politisch auch handelt sozusagen oder das ... die anderen machen's nur weniger deutlich. Es gibt Künstler, die sich sehr für dieses Environment einsetzen, gegen die Umweltverschmutzung agieren. Es gibt Künstler, die sehr wohl gesellschaftliche Probleme aufgreifen, die sie aber künstlerisch umarbeiten. Und das kommt dann eben gefiltert und künstlerisch durchgedacht daher.

Pokatzky: Ich spreche mit Ulrike Münter und Andreas Schmid über den chinesischen Dissidentenkünstler Ai Weiwei, dessen Münchner Ausstellung seit heute zu sehen ist. Frau Münter, ist Ai Weiwei - ich versuche es jetzt noch einmal - ist er ein großer Künstler, der auch als Künstler in die Kunstgeschichte eingehen wird, oder ist er aus Ihrer Sicht eher eine politisch handelnde Person, die vielleicht einmal in die politische Geschichte eingeht?

Münter: Nein, ich würde die zweite Frage doch mit Nein beantworten. Er wird in die Kunstgeschichte eingehen, aber nicht nur für die Qualität seiner Kunstwerke. Und wenn ich jetzt - ich komme ja gerade aus München zurück, heute Nacht bin ich zurückgeflogen aus München, also in meinem Kopf ...

Pokatzky: Sie waren bei der Vorführung gestern im Haus der Kunst.

Münter: Das ist eine Vorführung, das ist jetzt auch eine interessante Formulierung, weil das Gespräch mit Ai Weiwei war eine Vorführung, das erinnerte mich sehr an eine amerikanische Talkshow. Auch dieser Jubel, dieses Hurra, dieses Klatschen nach jeder Bemerkung von Ai Weiwei fand ich sehr problematisch. Da frage ich mich dann schon, ob es um Kunst geht oder um Personenkult.

Und gleichzeitig möchte ich sagen, es gibt wunderbare Kunstwerke von Ai Weiwei in München zu sehen, die einen wirklich rühren. Die "Map of China", die aus Tausenden von kleinen Holzstückchen zusammengesetzt ist, der Teppich, der den Boden des Haus der Kunst kopiert und der ihn weich macht, der ihn zu einer sinnlichen Irritation macht, das sind wunderbare Werke.

Gleichzeitig gibt es plakative Werke, wie eben diese Wandarbeit mit den 9000 Rucksäcken. Das ist materialästhetisch banal, es ist eher abstoßend, wenn man die Dinger anfasst - die Leute fassen die Rucksäcke an, das ist billiges Plastik, die Message ist eindimensional. Also diese Münchner Ausstellung wirft einen in ein Wechselbad der Gefühle. Und genau dieses Wechselbad der Gefühle ist das, was ich mit Ai Weiwei verbinde. Ich krieg ihn nicht auf den Punkt.

Pokatzky: Und was ja vielleicht auch große Kunst ist?

Münter: Was auch Kunst ist, was auch etwas anderes ist, was auch Medienspektakel ist.

Pokatzky: Andreas Schmid, kann Ai Weiwei in China überhaupt ausstellen oder ist er da auf den Westen und die Möglichkeiten, die wir ihm geben, angewiesen?

Schmid: Nein, nicht mehr, er kann schon auch ausstellen. Er kann ausstellen - es ist seit dem Jahr 2000 so, dass der chinesische Staat sich nicht mehr so sehr gegen seine Künstler, Gegenwartskünstler wendet wie vorher. Also ich habe noch erlebt in den 80ern, dass Ausstellungen geschlossen wurden, dass Künstler verprügelt wurden, und zwar richtiggehend dauernd und das wurde vom Westen einfach nicht registriert oder wollte man nicht richtig wahrnehmen. Das ging bis ins Jahr 2000. Ab 2000 ist es etwas besser geworden, weil die chinesische Regierung sah, dass man mit den chinesischen Künstlern Geld machen kann.

Pokatzky: Ja, aber auch Ai Weiwei ist ja zusammengeschlagen worden. Er musste sich in München wegen einer lebensbedrohlichen Hirnblutung behandeln lassen, was ja jetzt auch Gegenstand der Ausstellung wieder ist. Das heißt, da kommen wir wieder sozusagen auch zu dem lebenden Politikgesamtkunstwerk, was sich da in der Ausstellung da präsentiert?

Schmid: Dazu ist zu sagen, dass man dann Künstler, chinesische Künstler nie ohne den historischen Hintergrund betrachten kann. Und bei Ai Weiwei ist es eben so: Durch dieses harte Schicksal seines Vaters, der nicht Dissident war, sondern eben Dichter und als Dichter sehr früh sich Mao angeschlossen hat und dann aber Ende der 50er-Jahre sozusagen verbannt wurde und durch dieses harte Leben in ??? wurde er sozusagen auch geprägt, und das hat bei ihm Widerstand aufkommen lassen und hat ihn dazu sozusagen geformt, dass er jetzt auch politisch agiert, würde ich sagen, neben seinem künstlerischen Werk.

Pokatzky: Danke Ulrike Münter und Andreas Schmid. Die Ausstellung "So Sorry" von Ai Weiwei ist von heute an noch bis zum 17. Januar 2010 im Haus der Kunst in München zu sehen.
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